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Essay

Kann man die Heimat in einem Tag durchwandern?

Auf irgendeiner Seite im Internet (google, Facebook, Yahoo, ein Nachrichtenportal) wird mir seit einiger Zeit, vielleicht seit meiner Reise in den Iran, wiederholt nahegelegt, mit einer bestimmten Methode ließe sich eine fremde Sprache innerhalb von drei Wochen erlernen. Was auch immer dieses Angebot verspricht, ich frage mich, was mit „erlernen“ gemeint ist – bewohnen ganz sicher nicht, denn die Sprache zu bewohnen, in ihr beheimatet sein, versuchen wir ja unser ganzes Leben über, bis wir dann, manche früher, andere später, die Sprache doch wieder durch Schlaganfall, Einsamkeit, Trauer oder Tod verlieren, eingeschlossen sind in einem vor- oder nachsprachlichen Raum. Verlieren wir dadurch Heimat oder gewinnen wir sie erst da zurück, Heimat in jenem Rauschen und Lallen, das uns als Kleinkind umgab? Das lallende Superlativ malt sich als Jenseits aus, ein Erlebnis, das wir nicht länger übersetzen können, weder mit Zeichen noch mit Silben, das wir nicht mehr auf Distanz zu rücken verstehen, also nicht verstehen, nicht sprachlich einhegen können.

Ist Heimat also das Gehege, das uns Orientierung gibt? Und wäre dieses Gehege in einem Tag zu durchwandern? Und wenn ja, diagonal hindurch oder einmal rund herum? Oder ist es das Gehege, dass uns von dem Gefühl von Heimat trennt: fremdbestimmendes Reservat?

Heimat jedenfalls ist nicht in einem Leben zu durchqueren. Sie könnte die Angst vor dem Unverständnis, oder mehr: vor dem Nichtverstehen sein. Mit der Sprache ziehen wir Distanz ein, lösen die Verschmelzung zu den Eltern auf. Indem wir beginnen, sie zu verstehen, beginnen wir zu verstehen, dass wir sie nie ganz verstehen können. Dass wir nicht sie sind. Dass sie tatsächlich andere Gedanken haben als wir. Dass in ihren Köpfen eine andere Welt ist als unsere. Dass Yves Kleins Monochromes Blau in ihren Köpfen eine andere Farbe hat. Dass wir uns darüber nicht austauschen können, denn die Worte bleiben dieselbe: monochromes Blau. Und die Worte versagen.

Ist Heimat in der Masse möglich, im Kollektiv, und wenn ja, müssen wir dann geschlossen den Tagesmarsch antreten? Und wenn ja, werden dann Soldatenmärsche dabei gesungen, Volkslieder, irgendwas aus den Charts oder wird nur gesummt?

Jedenfalls zu beachten bei der Tageswanderung die Klüfte, Schrappnellen, Fontanellen, Abstürze in der Landschaft, im Hirn. Unser Kopfinneres ist ein gewaltiges Gebirge. Vermutlich kommt vieles auf unsere Fähigkeit an, Zierpflanzen und Haustiere mit uns zu nehmen, denn heimisch sind wir womöglich da, wo wir auch im Unnützen, Unverstandenen Vertrautes schaffen. Das Brot, das Hänsel und Gretel ausgestreut haben, war nicht so sehr, um zurückzufinden, sondern um die Katze hinter sich her zu locken, die Heimat auch dort bei sich zu haben, wo sie nicht sein kann und gerade doch ist, nämlich geschaffen wird. Heimisch sind wir da, wo wir auch im Summen, in den Lalllauten bei uns bleiben, wo die Sprache nichts mehr bezeichnen, nicht kommunizieren muss und uns doch wiedererkennt. Oder wir sie.

Kann man denn Sprache in einem Tag durchwandern?

Es läge vielleicht Verständnis, aber ganz sicher kein Sinn darin.

Nora Bossong, geb. 1982, lebt als Lyrikerin, Romanautorin und Essayistin in Berlin. Zuletzt erschien von ihr der Roman „36,9 Grad“ und die literarische Reportage „Rotlicht“, beide im Hanser Verlag.

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