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Fühlen wir uns in Europa sicher?

Es gibt Abende, an denen ich meine Haustür nicht zuschließe. Ich vergesse die Drehung des Schlüssels, den kleinen mechanischen Trick, der das Schlafzimmer von den unendlich potentiellen Gefahren abscheidet. Manchmal fällt mir mein Versehen noch ein, aber es ist eine Wette mit mir selbst Vertrauen zu haben in diese Nacht, die Landschaft und die Bewohner, so dass ich die alten Treppen nicht mehr hinabsteige und mich der Offenheit hingebe, ein kleiner Kick im Sicherheitskokon. Es ist ein Haus auf dem Dorf, niemand wird kommen: die Einheimischen liegen träge auf den Sofas, schauen Günther Jauch, die Enkel kiffen in den Garagen, die Flüchtlinge im alten Industriegebäude laufen nur tagsüber in Freiheit zu Netto und Edeka und Norma und sitzen des Nachts im Neonlicht.

An den meisten Orten des Kontinents begleitet uns ein Gefühl der Unverletzlichkeit, sei es ein schwedisches Dorf in Småland, ein Einkaufszentrum in Duisburg oder eine Diskothek in Warschau. Und selbst im Pariser RER-Vorstadtzug oder in einer engen nächtlichen Gasse am menschengetränkten und ethnisch durchmischten Hafen von Genua ist der kleine Schauer eher der Vorstellung von einer Gefahr geschuldet als einem empirisch nachweisbaren Sicherheitsentzug.

Einmal lauerten mir an einer Straßenkreuzung im Marais drei Maghreb-Jungs auf und drückten mich an die Wand der jüdisch-orthodoxen Schule. Einer drohte unter meinem Kinn mit der Faust, die anderen entnahmen meiner Tasche Laptop und Handy, 32 Euro Bargeld – ein ungeheuerliches Gefühl, in der Gewalt von anderen zu stehen, den Ausgang des Moments hier nicht mehr mit pfiffigen Reden oder schwächlichem Bizeps beeinflussen zu können. Staunend, was passieren wird, übereignet dem Schicksal.

Meine Generation ist in Sicherheit gebettet. Wer fällt, auf den wartet das Trampolin der sozialen Sicherungssysteme, wer krank wird, kann sich auf Sorge, meistens Heilung verlassen. Wir können die alten Erzählungen, die großen Bücher kaum verstehen, fehlt uns doch das leibliche Nachempfinden der echten Angst, wie wir sie vielleicht einzig in ausweglos erscheinendem Kinderspiel empfanden, als wir Angriff und Unterdrückung ernst nahmen und uns gerettet an den Mittagstisch der Eltern einfanden.

Der Europäer ist ein Meister im Versichern, darin, die Gefahr durch Kalkül zu bannen und in Paragraphen hinwegzudefinieren. Freilich warten noch immer die Klippen der diffusen Unsicherheiten, doch das moderne Leben ist fern von ihnen in buntem, frohem Licht errichtet. Das Gefährliche wartet vielleicht nur im Traum, in den psychologischen Gängen zum wirklichen Unglück, in der Gefahr des Selbst?

Unser heutiges Europa ist vieles, vielleicht ist es aber vor allem das Gefühl der Sicherheit, zumindest für uns Nachgeborene, die zum Großteil noch nie eine Waffe in der Hand hielten, die die Töne des Krieges nur aus Filmen kennen und für die das wirklich Gefährliche ein literarischer Topos ist. Jahrhunderte lang investierten die fähigsten Denker ihre Energien um Techniken der Sicherheit zu entwerfen, Abwehranlagen, Schließsysteme, Verteidigungen. Die alten Eichenriegel an den gotischen Pforten, die als Wehrkirchen gebauten Glockentürme, Gräben und Hecken in den Wäldern, der Wall Hadrians gegen die Barbaren. Die markierte und physische Grenze zwischen dem Hier und Dort, dem Innen und Außen, des umhegten, übersichtlichen Terrains und der Wildnis, der Heimat und der Fremde war der Grundbaustein jedweder Sicherheit. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und den offenen europäischen Grenzen ist diese „Kulturtechnik“ im staatlichen Dienste geradezu in Verruf geraten. Im Moment des höchsten Sicherheitsgefühls ist es progressiv, die offene, die beseitigte Grenze einzufordern.

Im Institut de France in Paris befinden sich zwölf Notiz- und Skizzenbücher von Leonardo da Vinci. Auf den Seiten zeichnetet und entwarf das Renaissance-Genie Kriegsmaschinen, Luftschrauben, ein Unterseeboot, ideale Städte und Entwürfe für Kirchen.1502/03 war Leonardo zehn Monate als Architekt und Militäringenieur für Cesare Borgia tätig, dem Kommandanten der päpstlichen Truppen. In dieser Zeit reiste er viel in den Marken und durch die Romagna, widmete sich den Festungsanlagen und der Verteidigung des Territoriums. In einem Band der Pariser Manuskripte zeichnet und beschreibt Leonardo seine Einfälle für Festunsgbauten, die teils ausgeführt wurden, teils phantastisch gedacht nicht mit den Materialen und Fertigkeiten der Zeit umzusetzen waren. Neben seine Zeichnungen schrieb er: „La paura nasce più tosto che altra cosa“. Die Furcht entsteht viel früher als alles andere.

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