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Das Gefühl der Sicherheit, der wohlverdiente Wohlstand?

Dankesrede – Verleihung des Debütpreises des Buddenbrookhauses Lübeck.

Die weiße Fassade des Buddenbrookhauses ist unterhalb des Giebels mit zwei Figuren geschmückt. Auf der linken Seite steht beziehungsweise liegt lässig bis lüstern eine Personifikation der „Zeit“. Rechts im Spiegelbild lockt der „Wohlstand“ den Betrachter an, verspricht ihm, dass hinter der Tür das große Geschäft auf ihn wartet. Die beiden Figuren am Giebel sind Personifikationen, Bild gewordene Losungen. Sie verkörpern den calvinistisch reformierten Glauben an die göttliche Vorsehung des menschlichen Lebens: als lang schon festgelegtes Ergebnis der innerweltlichen Askese, des tagtäglichen Schuftens gilt verrinnende Zeit und wachsender Wohlstand. „Dominus providebt“- „der Herr wird es vorsehen“ lautet die Inschrift auf der Gibelfassade über dem Eingang. Wer hier hineintritt, kann sich sicher sein, dass sein Weg in die richtige Richtung führt. Die selbstbewusste Bürgerlichkeit ist in der Mengstrasse 4 zu Hause, fühlt sich groß und lädt zur Nachahmung ein. Der Glaube an die wesensdefinierende Kraft von Konkurrenzstreben und Gewinnsteigerung, die Überzeugung, dass Leben vor allem Leisten heißt und Schlafen zuvorderst Scheitern, prägt den Mythos Buddenbrook bis in die Architektur seines zentralen Haupthauses hinein.

Nun haben Sie, meine Damen und Herren, sich heute dazu entschlossen, ein Buch mit Ihrem würdigen Preis auszuzeichnen, das zumindest den Versuch unternimmt, gegen das vorgesehene Zeitregiment, die Selbstverständlichkeit des Leistungsanspruchs ans eigene Ich aufzubegehren. Meine „Sieben Nächte“ sind „Sieben Nächte gegen die Zeit“, gegen das stillschweigende Verrinnen, das gedankenlose Fortlaufen in vorgezeichneten Bahnen, das dumpfe vor sich hin Nickern in gemachten Betten. Es geht gegen die Zeit, ihre selbstsichere Überheblichkeit, die uns alle in ihrem Griff zu halten meint. Mein Protagonist will ihr ein Schnippchen schlagen, einmal noch im Windschatten der Jugend drauf los fahren, die Watteverpackung abstreifen und den Kofferraum offen lassen. Gegen die Vorsehung ankämpfen. Für die Selbsteroberung. Das Mutgefühl. Den eigenen Drang.

Und auch gegen den Wohlstand, der schon im wörtlichen, nicht einmal materiellen Sinne beschwerend und narkotisierend wirkt, wollen die „Sieben Nächte“ sticheln. Sich „wohl“ zu fühlen, was bedeutet das schon? Woher kommt starke Kunst, was entwickelt schwungvolle Überzeugungskraft? Das Gefühl der Sicherheit, der wohlverdiente Wohlstand? Wohl eher nicht. Eher das Gegenteil: Angst, Bedrohung, Krise, das sind die eigentlichen Initiatoren der künstlerischen Schöpfung. Der Ausgangspunkt des existenziellen Fortschritts lautet ja gerade nicht: Glück, Zufriedenheit, Sonnenstrahlen, sondern Traurigkeit, Verzweiflung, bitteres Ungenügen. Insofern sind die stetig rinnende Zeit und der kräftezehrende Wohlstand die eigentlichen Feindbilder meiner Essayerzählung. Denn aus ihnen ist beiden ist das gemacht, was ich am furchtbarsten finde: der ironisch blank geputzte Zynismus. Gegen ihn lohnt es sich heute wie nie aufzubegehren mit einem neoromantischen Impuls, einem sinnesstarken Interesse für Gefühl, Geheimnis und Gemeinschaft. Die Wege, die außen herumführen, die Bögen schlagen, Täler durchqueren – das sind die eigentlich lohnenden Pfade des Lebens. Wer sie begeht, der lernt zu fühlen, sich selbst und die Welt um ihn herum. Der Protagonist in „Sieben Nächte“ will einmal nicht auf Zeit und Wohlstand achten, deshalb schreibt er nachts, deshalb behauptet er Jugend. „Den Mut, Fehler zu machen“ hat Theodor Mommsen, der soeben zum 200. Geburtstag breit gewürdigte, römische Historiker einmal gesagt, das sei der eigentliche Vorteil der Jugend. Ihr Ruhmeszeichen. Nie gescheitert zu sein heißt: Nie das Gefühl gehabt zu haben, etwas zu überstehen. Ohne Fehl und Tadel ist nur, wer von innen her ewig kalt bleibt.

„Sieben Nächte“ will all das andeuten. Es will Mut machen zum Überwältigt-Sein, zum Staunen, zum Geheimnisglauben auch. Das Buch ist eine Suchanfrage, geschrieben in der Hoffnung auf Antwort. Ein paar Neoromantiker haben sich schon gemeldet, aber ich freue mich noch auf viel mehr. Jeder Blick, jede Zeile, die mich ausgelöst vom Buch erreicht, stärkt meinen Protagonisten. In seiner Sehnsucht nach einer unvollendeten Weltsicht, seinem Glauben an Risiko und Grenzüberschreitung, seiner Eroberungslust und seiner Liebe zum schönen Wort, zur bedeutenden Zeile. Was „Sieben Nächte“ eigentlich ist, ist ein Aufruf zum „Sünden-Müßiggang“, zum Dahinleben ohne Ziel und reinen Verstand.

Aber wie passt das, sehr verehrte Damen und Herren, wie passt dieses Buch zusammen mit dem Buddenbrook-Preis. Mit den beiden Personifikationen, dem strengen Spruch über dem Eingang, der strebsamen Großbürgerlichkeit? „Entweder man verbürgerlicht oder man begeht Selbstmord“- der scharfe Satz aus Ferdinand Bruckners „Krankheit der Jugend“ ist ja das heimliche Motto meines Buches. Weiter entfernt kann man von den „Buddenbrooks“ gar nicht sein.

Stimmt nicht. Denn es gibt Christian. Christian Buddenbrook, den hypochondrischen Nichtstuer, den Antityp, den Thomas Mann nach den Umrissen seines Onkels Friedrich und ein wenig wohl auch nach denen seines Bruders Heinrich so bitter genau gezeichnet hat, dass er – zumindest für mich – immer die eindrucksvollste Figur im ganzen Buddenbrook-Kosmos war.

Ein Gegen-Johann und Anti-Thomas, der seine Familie mit den detaillierten Beschreibungen seiner Leiden –„kennst Du eigentlich auch dieses Gefühl, dieses Ziehen in der linken Seite, wenn alle Nerven zu kurz sind?“ – und Wahnvorstellungen in die Verzweiflung treibt. Ihnen gilt er als Tunichtgut und kaufmännischer Versager, als Quengler und Dilettant. Und das ist er auch: Ein „Begeisterter“ im wörtlichen Sinne, der seine Tage lieber im Club oder Theater verbringt als im Kontor, fürs Reisen lebt, eine Agentur für Champagner übernimmt, Chinesisch lernt und doch nie etwas zu Ende bringt. Christian ist ein Träumer, ein Verlierer, der vom Schicksal in der falschen Umgebung ausgesetzt wurde. Ihm geht jedes Pflichtgefühl ab, immer wieder stürzt er von Euphorie in tiefste Verzweiflung, verliebt sich unglücklich, nutzt sein Firmenkontorbuch als Tagebuch. Nur eines kann er glänzend: Schauspielern. Die Nachahmung und das Fantasievermögen sind seine beiden Leit-Personifikationen. Anstelle von Zeit und Wohlstand. Nach den bürgerlichen Maßstäben seiner Umgebung ist er ein verlorener Sohn, ein läppischer Außenseiter. Puppen faszinieren ihn, nicht das Prestige des Kaufmannsstandes, von dem er einmal in einer antikapitalistischen Anwandlung betrunken behauptet, sie seien sowieso „alle Betrüger“. Hässlich ist „Krischan“ oben drein: „Sein Hals war dünn und zu lang und seine mageren Beine zeigen eine starke Krümmung nach außen“, so beschreibt ihn Thomas Mann. Kein Wunder, dass ihn sein Onkel später in einer Zeitunganzeige als „Nestbeschmutzer“ beschimpfte. Und doch hätte er etwas genauer lesen sollen, um auch die heimliche Sympathie des Autors mit seiner unglücklichen Nebenfigur zu erkennen: „Solange ich denken kann, hast Du eine solche Kälte auf mich ausströmen lassen, dass mich in deiner Gegenwart beständig gefroren hat“, sagt Christian seinem Bruder Thomas einmal ins Gesicht. Er ist ein Träumer, einer, der Sehnsucht hat, mehr will, vom Leben erwartet, das es ihn gefälligst herausfordern soll. Das Leiden ist für ihn der Ausgangspunkt aller Bewegung, allen Mutes. Nichts ist ihm schlimmer als Gewohnheit, als kalte, kühle Berechnung. Wohlfälliger zynischer Glauben an das eigene Leistungsethos.

In dieser Hinsicht ist Christian dem Protagonisten von „Sieben Nächte“ sehr nah. Besser gesagt, er ist ihm voraus. Er hat von Anfang an die Stelle des Außenseiters angenommen, die Krankheiten, von denen er meint geplagt zu sein, sind noch die letzten Überbleibsel einer kindlichen Hoffnung auf Geborgenheit und Anteilnahme. In Wirklichkeit weiß er, dass er immer im Abseits stehen wird, selber einen Weg finden muss. Alles ist schwer für ihn, unzumutbar, traurig auch. Und doch: er hat die großen Gefühle, und die anderen nur das große Geld. Er fühlt Feuer, die anderen bleiben für immer kalt.

Christian, meine Damen und Herren, ist mein Mittelsmann zur Buddenbroook-Welt, und damit auch zum Buddenbrook-Preis. Ihm vertraue ich. Seine Existenz bestätigt meine Suche. Und sie bestärkt mich darin, dass neben allem Witz, aller Ironie, aller Komik auch das Scheitern, die Tragik, das Tieftraurige zum beschriebenen Leben dazugehört. Weil es eben nicht nur um Zeit und Geld geht und der liebe Gott keineswegs vorher bestimmt, wer wir sein sollen. Unsere Zukünfte sind offen. Und unsere Herzen sollten es auch sein. In diesem Sinne danke ich Ihnen von ganzem Herzen für den Buddenbrook-Preis. Er ehrt und stärkt mich sehr. Herzlichen Dank!

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