Während unseres Treffens in Catania diskutierten wir den Begriff „Widerstand“, auch seine Verwendung und Ausformung im Recht, insbesondere im Grundgesetz, Artikel 20 IV. Das Protokoll gibt Einblick in Eckpunkte der Diskussion:
Einführung
Ist der Frage nach Widerstand im Recht nachzugehen, so fällt der Blick schnell auf Art. 20 IV des Grundgesetzes. Zwar stellt das Recht insgesamt den Versuch dar, widerstreitende Interessen durch ein komplexes Geflecht von Regeln in Ausgleich zu bringen. Der genannte Artikel räumt jedoch den Bürgern an exponierter Stelle das Recht ein, sich Bestrebungen zur Beseitigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung entgegenzustellen. Dies prädestiniert Art. 20 IV GG, um an ihm einige Vorstellungen zum Verhältnis von Widerstand und Recht, vor dem Hintergrund des modernen europäischen Verständnisses, zu entfalten.
Herkunft
Seine zugegebenermaßen nicht besonders aufregende Existenz – praktische Anwendungsfälle bestanden bisher nicht – verdankt Art. 20 IV GG der Notstandsgesetzgebung der 60er Jahre. Er kann als Versuch gewertet werden ein verfassungsrechtliches Gegengewicht zu den damals neu eingeführten Notstandsgesetzen zu implementieren – historische Vergleiche zur Weimarer Zeit dürfen an dieser Stelle nicht fehlen.
Abgrenzung
Zwar stellt Art. 20 IV GG eine Form möglichen Widerstandes dar, ist aber bei weitem nicht die einzige.
Jede demokratische Verfassung regelt explizit gewünschte Formen des Widerstandes. Individuell räumt die Verfassung dem Bürger in Form der Grundrechte unter anderem die Möglichkeit ein, Abwehransprüche gegen staatliches Handeln geltend zu machen, beispielsweise im Rahmen der Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Auf kollektiver Ebene stellt die Opposition im Parlament einen systemimmanenten, d.h. gewünschten weil eingehegten, Widerstand dar.
Als zivilen Ungehorsam beschreibt man hingegen bewusste, gewaltfreie Rechtsverletzungen aus ethischen Beweggründen mit dem Ziel gesellschaftliche Missstände zu beseitigen. Diese auf Veränderung drängende Herangehensweise wird von dem rein konservativen Art. 20 IV GG, die bestehende Ordnung soll als solche gerade geschützt werden , nicht gedeckt.
philosophische Grundlagen
Von diesen anderen Formen des Widerstandes unterschieden sei das Widerstandsrecht der Verfassung als eine Regelung des Ausnahmezustandes. Der Artikel versucht die Situation eines Zustandes zu kontrollieren, welcher sich gerade durch die Abwesenheit von Regeln hervortut. Dieser zurecht durchaus paradox anmutende Versuch zielt unter anderem auf die Legalisierung von Widerstand ab. Er soll so dem verfassungstreuen Bürger gerade da einen Anreiz zur Verteidigung der Rechtsordnung bieten, wo diese eine solche besonders nötig hat: im Zustand ihrer Auflösung. Die Rechtsordnung versucht ihre Geltung damit über ihre eigenen Grenzen hinaus auszudehnen.
Hier zeigt sich auch der naturrechtliche Ursprung des Art. 20 GG, in den überpositiv begründeten Widerstandsrechten von der Antike (Stichwort: Tyrannenmord) bis zur frühen Aufklärung zu Beginn des modernen Staatswesens (Locke). Zwar erfährt damit ein naturrechtliches Widerstandsrecht seine Positivierung, ist aber immer in diesem Zusammenhang zu verstehen.
Tatbestand / Voraussetzungen
Der Tatbestand des Artikels ist relativ weit gefasst. Voraussetzung ist, dass es jemand unternimmt die freiheitlich-demokratische Grundordnung abzuschaffen. Erfasst ist somit der Putsch „von oben“, wie der Aufstand „von unten“. Doch gerade im Verweis auf aktuelle Bestrebungen in Polen oder die Grenzöffnung im Sommer 2015 zeigt sich die Schwierigkeit hier zu einer sauberen Einordnung zu gelangen.
Wo wird das Verfassungsleben nur erschwert und wo schlagen solche Bestrebungen in eine (partielle) Beseitigung der Rechtsordnung um? Gerade teilweise autoritäre Versuche innerhalb Europas die Meinungs- und Pressefreiheit einzuschränken führen vor Augen, dass der Gedanke an ein Widerstandsrecht mitunter auch in Europa aktuell sein kann.
Die Ausübung des Rechts aus Art. 20 IV GG ist immer ultima ratio. Werden diese Grenzen eingehalten, stellt das Widerstandsrecht ein Instrument des Verfassungsschutzes i.S.e. Notstandsrechts dar und adressiert den Bürger als Souverän. Doch abseits einer solch freiwilligen Verteidigungshandlung des einzelnen Bürgers: Kann die Verfassung den Bürger in die Pflicht nehmen? Eine solche Überlegung ginge jedoch zu weit, würde sie den Charakter des Angebots in der Regelung des Art. 20 IV GG missverstehen. Was sich jedenfalls zeigt ist die besondere Verantwortung des Bürgers für den Fortbestand der Rechtsordnung.
post-nationaler Widerstand
Noch weiter führt die Frage des Widerstands in – teils so bezeichneten – post-nationalen Zusammenhängen. Wie kann noch adäquat Widerstand geleistet werden, wenn sich die beanstandete Handlung der direkten Kontrolle der Nationalstaaten entzieht? Jedenfalls hierzu kann Art. 20 IV GG seinem Wesen nach keine Auskunft geben, die Frage musste in diesem Zusammenhang unbeantwortet bleiben. Das besprochene Widerstandsrecht ist geprägt durch die demokratische Vermittlung von Herrschaft im Rahmen des Nationalstaats. Abseits dieser Vermittlung kann es nach seiner dargelegten Herkunft und Funktion deshalb keinerlei Wirkung entfalten.
Fazit
Art. 20 IV GG hat in erster Linie symbolische Bedeutung, er kann als Aufforderung verstanden werden für die Bewahrung der Rechtsordnung einzutreten. In dieser Funktion geht der Artikel je nach Ansicht vollends auf – oder erschöpft sich in ihr.
Protokoll: Simon Kneip