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Essay

Bist du müde?

Europa ist müde. In Belgrad, der alten heimlichen Hauptstadt des Ostens, stehen die Zeichen der Zeit an die Wand geschrieben. Als hätte man uns wie Belšazar eine Prophezeiung hinterlassen.

Europa ist müde. In Belgrad, der alten heimlichen Hauptstadt des Ostens, stehen die Zeichen der Zeit an die Wand geschrieben. Als hätte man uns wie Belšazar eine Prophezeiung hinterlassen. In großen schwarzen Buchstaben sprangen mir die Wörter von der Wand entgegen, welche schon langsam zu zerbröckeln begann:

„Bist du müde?“

Lange blickte ich darauf; es schien irgendetwas in mir auszulösen. Ich war sehr neugierig, wer sich wohl dazu entschlossen hatte, so etwas auf eine Wand zu schreiben. Noch größer als die Neugier auf den Beweggrund jedoch war mein Ehrgeiz, dieses Rätsel zu lösen!

Ja, ich bin müde. Kannst du mir helfen? Warum bin ich müde? Weil ich auf Lösungen warte, anstatt selbst danach zu suchen? Manchmal, wenn ich Worte höre, die ich schon zu oft vernommen habe … wird mein Geist müde. Andererseits wiederum: Wenn ich Worte vernehme, die mir etwas wert sein könnten, bin ich auch dafür zu müde. In dieser Stadt der vielen Worte scheinen einige Leute müde zu sein: Niemand hört den Geist des anderen! Und ich erinnere mich, den gleichen Ausdruck in den Gesichtern auch in Berlin gesehen zu haben. Vielleicht liest irgendwann ein müder Geist diese Worte genauso wie ich jetzt. Vermag das Auge mit dem Geist zu reden, wie es das Ohr nicht hören kann?
Nein, eine Antwort auf diese Frage ist nicht zu finden und auch keine Erklärung, was wir machen sollen. Müde ob dieser Aneinanderreihung von Täuschungen und des ungerechten Wechsels von Sünde und Unglück.
Ach, in meinen Gedanken ist nur Nebel – Nebel ohne Belang.

Und während ich so darüber nachsann, sah ich einen alten Mann im Rollstuhl, der von einer Frau vorbeigeschoben wurde und ihr mit einer Handbewegung signalisierte, vor dem Graffito stehenzubleiben. Er sah aus wie fleischgewordene Müdigkeit, jedoch schien ihn der Schriftzug, der wohl wie ein Affront wirkte, aufzurütteln.

Er sagte nichts, blickte nur auf die Worte. Doch mir war, als hörte ich seine Gedanken, während er auf seine Hände blickte, die von Arthrose zerschunden waren. Er schien sich zu fragen:

„Müde seid ihr? Von was? Wie müde war wohl die Hand, die gegen die osmanische Invasion Europas das Schwert erhob? Wie müde, die des Mannes, der Stein für Stein, diese Stadt wiederaufbaute? Wie müde kann die Hand, die diese Worte schrieb schon sein. Fragt eure Väter und deren Väter, was es heißt, müde zu sein.“

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