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Flucht aus der Vergangenheit

Alexander Demandt und die europäische Flüchtlingskrise.

Als Kaiser Valens in der Schlacht fällt, ist die Katastrophe von Adrianopel perfekt. Diese vernichtende Niederlage römischer Legionen gegen ein gotisches Heer im Sommer des Jahres 378 n. Chr. ist für den renommierten Althistoriker Alexander Demandt der Anfang vom Ende des Römischen Reichs. So schreibt er in seinem 2016 bei der FAZ veröffentlichten Text Das Ende der alten Ordnung (1): „[Der neue Kaiser] Theodosius musste den Fremden 382 Land anweisen, wo sie nach eigenem Recht lebten. Die Donaugrenze aber war und blieb offen. Immer neue Scharen drangen ins Reich. Im Jahre 406 war auch die Rheingrenze nicht mehr zu halten.“ Der Ursprung allen Übels lag Demandt zufolge in der schicksalhaften, zwei Jahre zuvor getroffenen Entscheidung, die Grenzen des Reiches für eine gotische Masseneinwanderung zu öffnen: „Überschaubare Zahlen von Zuwanderern ließen sich integrieren. Sobald diese eine kritische Menge überschritten und als eigenständige handlungsfähige Gruppen organisiert waren, verschob sich das Machtgefüge, die alte Ordnung löste sich auf.“

Demandts Text entstand in unmittelbarem Zusammenhang mit der sogenannten Flüchtlingskrise des Jahres 2015. Damals, in der Nacht des 4. September, entschied die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel entgegen der weit verbreiteten Wahrnehmung gemeinsam mit ihrem österreichischen Amtskollegen Werner Faymann, eine große Anzahl fliehender Menschen in ihre Länder aufzunehmen. Die anfängliche, viel gefeierte Willkommenskultur in Deutschland wurde spätesten nach der Silvesternacht 2016 von einer intensiv geführten gesellschaftlichen Diskussion über die Einwanderungspolitik abgelöst. Es wurde gefragt, wie viele Flüchtlinge das Land vertrage, ob es denn nicht eine Obergrenze brauche. Auf dem Höhepunkt dieser Auseinandersetzung verfasste Alexander Demandt seinen Artikel über das Ende des römischen Reichs als Resultat einer unkontrollierten Masseneinwanderung. Das Magazin der Konrad-Adenauer-Stiftung, in dessen Auftrag der Text eigentlich geschrieben worden war, verweigerte die Veröffentlichung. Fachkollegen warfen ihm vor, nicht auf dem Stand der aktuellen Forschung zu sein. Zustimmung fand Demandt dagegen bei denen, die die Politik der offenen Grenzen kritisierten.

Überraschend war die Stoßrichtung seines „historischen Kommentars“ zur Flüchtlingskrise indessen nicht. Alexander Demandt war und ist der Öffentlichkeit seit längerem als Vertreter konservativer Positionen bekannt. Im November 2012 hatte er beispielsweise in Berlin mit einer Festrede die Bibliothek des Konservatismus eröffnet. Doch während man über Demandts politische Positionen durchaus streiten kann, ist seine Expertise im Bereich der Spätantike unstrittig. Bereits in seiner 1963 erschienenen Dissertation beschäftigte er sich mit dem spätantiken Autor Ammianus Marcellinus. Später verfasste er Standardwerke zur Spätantike als Epoche und zum Fall Roms als Problem der Geschichtswissenschaft.

In dem 1984 veröffentlichten Buch zum „Fall Roms“ stellt er mehrere hundert Thesen zum Untergang des römischen Reiches nebeneinander, die die althistorische Forschung bis dahin entwickelt hatte. Schließlich beschäftigt das Verschwinden des einstmals so mächtigen römischen Reiches die Wissenschaft nicht erst seit den Migrationskrisen des 21. Jahrhunderts.

Die vermutlich einflussreichste Darstellung schrieb ab 1766 der Engländer Edward Gibbon mit seiner Meistererzählung vom Untergang und Verfall des römischen Reiches in den Stürmen der Völkerwanderung. Dieses düstere Bild von einfallenden Barbaren, die die antike Hochkultur zerstörten und so das „finstere Mittelalter“ einleiteten, wurde in Deutschland unter anderem durch Felix Dahns großen historischen Roman „Ein Kampf um Rom“ populär und blieb lange Zeit auch in der Forschung prägend. Dennoch fanden sich bald auch andere Erklärungen für Roms Untergang und das Ende der Antike. Denn das Imperium wurde nicht nur durch zunehmenden Druck auf seine Grenzen belastet. Konflikte zwischen den Kaisern in Ost und West, Usurpationen oder auch Streitigkeiten zwischen den einzelnen Richtungen und Gruppen der christlichen Glaubensgemeinschaft machten dem Reich ebenso zu schaffen wie beispielsweise die Verschlechterung des Klimas und damit zusammenhängende Ernteausfälle und Krankheitsausbrüche; die Pest fand in dieser Zeit immer wieder den Weg nach Europa.

In der Mitte des 20. Jahrhunderts begann sich die Geschichtswissenschaft schließlich zu fragen, ob man die Geschichte dieser Epoche, die Meistererzählung vom Untergang der antiken Welt, nicht grundlegend umschreiben müsse.

Ging mit dem römischen Reich im Westen tatsächlich auch die antike Kultur unter? Kann das auch heute noch so populäre Datum 476, als der Germane Odoaker den letzten weströmischen Kaiser absetzte, tatsächlich als einschneidende Epochengrenze zwischen Antike und Mittelalter gelten? War es vielleicht nicht eher ein schleichender Übergang in die Welt des Mittelalters? Oder ist die antike Kultur in diesem Sinne vielleicht sogar niemals untergangen? Ist sie nicht viel eher durch die neuen Machthaber, die Heerführer und die Kirche, „transformiert“ worden, indem man vielfach römische Verwaltungsstrukturen oder auch die lateinische Sprache und Schrift beibehielt?

In den letzten Jahrzehnten waren diese Fragen Gegenstand einer intensiven Forschungsdebatte. Den Überblick in dem auf diese Weise entstandenen Dickicht von Thesen und Positionen zu behalten, ist freilich schwierig. Dass die alte Meistererzählung vom Untergang des Römischen Reiches durch barbarische Invasoren nicht mehr uneingeschränkt gültig ist, darf heute jedoch als Forschungskonsens gelten.

Daher ist es aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive zumindest problematisch, wenn Demandt die Migration, zur einzigen Erklärung für den Untergang des römischen Reiches macht. Er konstruiert in seinem Artikel eine kohärent wirkende Erzählung, ohne darauf hinzuweisen, wie umstritten seine Deutung und ein Großteil der objektiv wirkenden „Fakten“ ist, die er für seine Beweisführung heranzieht. Die Glaubwürdigkeit der Quelle Ammianus Marcellinus wird ebenso wenig thematisiert, wie die höchst fragwürdige Beweislage für die These, dass eine vermeintlich arme aber kinderreiche und vitale Gemeinschaft der Goten auf die vermeintlich reichen aber kinderlosen und geschwächten Römer einen immer größeren Bevölkerungsdruck ausgeübt habe.

Das archäologische Fundmaterial lässt jedenfalls keine gesicherten Rückschlüsse auf den Kinderreichtum der Goten zu und literarische Quellen neigen hier gerne zur Übertreibung. Auf welch unsicherem Grund seine Beweisführung steht, weiß Demandt vermutlich besser als jeder andere. Es ist zwar sein gutes Recht als Historiker aus dem vorhandenen Material, eine Deutung zu formulieren, die nach dem eigenen Dafürhalten am schlüssigsten erscheint. Dies geht aber mit der Pflicht einher, die Probleme des verwendeten Quellenmaterials und der eigenen Beweisführung kenntlich zu machen und alternative Deutungsmöglichkeiten zumindest anzudeuten. Denn der Leser, der mit dem Themengebiet weniger vertraut ist, wird der Autorität eines Experten, der eine völlig geschlossen und widerspruchsfrei wirkende Darstellung präsentiert, meist folgen.

Das ist umso problematischer, wenn der Artikel, so wie im vorliegenden Falle, durchaus bewusst auf die politische Situation im Europa des Jahres 2015 anspielt und so eine Vergleichbarkeit dieser beiden historischen Situationen suggeriert. Schon der griechische Geschichtsschreiber Thukydides glaubte, Geschichte wiederhole sich. Liest man Demandts Erzählung, insbesondere vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse der Jahre 2015 und 2016, tritt diese Vorstellung von Geschichte deutlich zutage. Demandt schreibt über die Migrationskrise des Jahres 376: „Die Germanen berichteten, aus Innerasien sei ein wildes Reitervolk, die Hunnen, erschienen, habe die Ostgoten nördlich des Schwarzen Meeres besiegt und den Westgoten ein gleiches Schicksal angedroht. Diese seien geflohen, stünden jetzt am Nordufer der Donau und bäten als friedliche Flüchtlinge um Aufnahme ins Reich.“

Massen von friedlichen Flüchtlingen, die durch einen Krieg aus ihrer Heimat im Osten vertrieben wurden und nun um Aufnahme im sicheren Westen bitten; das erinnert alles doch sehr und sehr bewusst an das Geschehen in Europa und die syrischen Flüchtlinge im Jahr 2015. Es ging 376 n. Chr. allerdings mitnichten um die Aufnahme von einzelnen, wenn auch zahlreichen geflüchteten Individuen in verhältnismäßig kleine Nationalstaaten. Es ging darum, einen bewaffneten gotischen Kampfverband mit eigener herrschaftlicher Organisation auf das Gebiet des großen multiethnischen römischen Imperiums zu lassen. Die Situation, in der sich Kaiser Valens befand, ist also keineswegs unmittelbar mit der Werner Faymanns oder Angela Merkels im Jahr 2015 zu vergleichen.

Das von Thukydides wie auch von Cicero propagierte Modell der historia magristra vitae, von der Geschichte als Lehrmeisterin für das Leben ist einer der einflussreichsten Leitsätze der europäischen Mentalitätsgeschichte und heute noch ebenso mächtig und wirksam wie in der Antike. Nur allzu beliebt ist der berühmte Satz: „Die Geschichte lehrt uns…“. Doch eine solche Lehre ergibt sich niemals aus dem historischen Tatbestand selbst, sondern immer nur durch denjenigen, der über ihn berichtet und ihn mit einer Wertung versieht.

Der Blick in die Vergangenheit kann uns vieles darüber erzählen, wie Menschen mit den Umständen ihrer Zeit umzugehen versuchten und dabei altbekannte Wege einschlugen oder neue fanden. Fast noch mehr sagt er uns über unsere Gegenwart. Denn wie wir Geschichte verstehen und die Ereignisse der Vergangenheit zu einer Geschichte deuten, zeigt wer wir sind, wie wir denken und auf welchen Grundlagen und Überzeugungen wir unsere Gesellschaft aufbauen. Als Blick in die Zukunft aber dient die Geschichte nicht.

Hätte Valens aus der Vergangenheit lernen wollen, hätte er die über 300 Jahre alten Vorbilder Caesars oder Augustus‘ gefunden, die selber Germanen ins Reich aufnahmen, um neue Krieger zu gewinnen und einem militärischen Konflikt mit diesen Gruppen aus dem Weg zu gehen; durchaus mit Erfolg, wie Demandt in demselben Artikel darlegt. Welche andere Lehre für die Zukunft hätte Valens also ziehen können, als es seinen großen Vorgängern gleichzutun?

(1) http://www.faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/untergang-des-roemischen-reichs-das-ende-der-alten-ordnung-14024912.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0 (abgerufen am 04.04.2019).

(2) https://www.zeit.de/politik/2015-09/ungarn-fluechtlinge-grenze

(3) So schrieb der zuständige Chefredakteur an Demandt: „Gerade auch unter dem Eindruck der Ereignisse zu Sylvester in Köln ist mir deutlich geworden, dass Ihr sachlicher geschichtswissenschaftlicher Text, den Sie dankenswerterweise für uns vorbereitet haben, von böswilliger Seite im Kontext unserer politischen Zeitschrift missinterpretiert werden könnte. Aus meiner Perspektive besteht die Gefahr, dass isolierte Textstellen missbräuchlich herangezogen werden könnten, um allzu einfache Parallelitäten zur aktuellen Lage zu konstruieren, die wir uns nicht wünschen können.“, zitiert nach: http://www.faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/untergang-des-roemischen-reichs-das-ende-der-alten-ordnung-14024912.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0 (abgerufen am 04.04.2019).

Philip Schäfer, Jahrgang 1994, studiert an der Eberhard Karls Universität Tübingen die Fächer Geschichte, Latein und Altgriechisch. Seit 2018 arbeitet er für das dortige Seminar für Alte Geschichte. Neben der Beschäftigung mit der Antike ist seine zweite Leidenschaft die Musik und damit verbunden die Mitwirkung in verschiedenen Chören und Ensembles.

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