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Wo keine Götter sind, walten Gespenster

Einführungsrede zum Treffen der Gruppe „Arbeit an Europa“ in Torun, Dezember 2018

Willkommen zum sechsten „Europa-Treffen“ in Torun. Willkommen im Namen der jungen Denkinitiative „Arbeit an Europa“, die einerseits frei nach dem am Vorlesungshaus der Heidelberger Universität zu lesenden Bannerspruch von Friedrich Gundolf „Dem lebendigen Geist“, intellektuelle Gesprächswochenenden in europäischen Provinzregionen organisiert, um an zentralen Begriffen einer zukünftigen europäischen Kulturidentität zu arbeiten und öffentlich mit jungen Europäerinnen und Europäern vor Ort diskutiert. Und andererseits unter der Überschrift „Europäisches Archiv der Stimmen“ ein großangelegtes Zeitzeugenprojekt kuratiert, bei dem innerhalb der nächsten zwei Jahre in allen europäischen Ländern alte, zwischen 1920 und 1940 geborene Europazeugen von jungen Europäern zu ihren biographischen und ideelen Bezügen zum „Europäischen“ befragt werden sollen. 

Willkommen auch im Namen der „deutsch-polnischen Gesellschaft“ hier in Torun, unsere Gastgeber, die uns in Polen begrüßen: Als junge Deutsche ist es ein besonderes Gefühl, eine Nation zu besuchen, die so viel Leid erfahren hat, das im Namen unseres Landes geschehen ist. Dreimal hat Polen europäische Geschichte geschrieben, sagt man: 1920 bei der Schlacht an der Weichsel, bei der die Rote Armee zurückgeschlagen wurde und die als wichtigste Schlacht der Weltgeschichte gilt. 1939 als Polen dem Dritten Reich als erste politische Macht mutig Widerstand leistete und 1989 als hier die friedliche Revolution ausbrach und entscheidend zum Fall der Berliner Mauer und des Ostblocks beitrug. Polen zeichnet sich historisch gesehen durch einen Willen zum Widerstand und zur Aufopferung, aber auch durch die Erfahrung von Besatzung und Fremdherrschaft aus.Polens Nationalbewusstsein ist geprägt durch ein frühes Grundgesetz (1921 ratifiziert) und den Fleiß derjenigen, denen das Glück nicht in die Wiege gelegt ist. Noch heute gibt es in Polen die längsten Arbeitszeiten der EU. 1999 erfolgte der Eintritt in die NATO, 2004 wurde Polen Mitglied der EU.

Die Mittellage zwischen Deutschland und Russland, sowie sein wirtschaftlicher Erfolg in den vergangenen Jahren haben Polen international Anerkennung verschafft. Eine Anerkennung, die zuletzt durch den politischen Streit um die Flüchtlingskrise und einem aufkommenden Nationalismus und Populismus wieder gelitten hat. Die Religion, der christliche-katholische Glaube, ist in Polen jedenfalls immer noch mehr als eine Freizeitbeschäftigung unter vielen. Wo sich große Medienhäuser wie das hier in Torun ansässige und vom Ordenspriester Tadeusz Rydzyk gegründete RADIO MARYA in erster Linie als national-katholisch verstehen, da ist der richtige Ort für eine grundsätzliche Diskussion zum Verhältnis von „Nation und Religion“.

Dieses Treffen hat zunächst die rein inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von „Nation und Religion“ zum Zweck, will aber darüber hinaus auch Inspirationen sammeln für mögliche Fragestellungen für unseren Fragenkatalog. Das Programm wird sich der Wesensbeziehung von Nation und Religion aus historischer, philosophischer, literaturwissenschaftlicher und politischer Perspektive widmen. Lasst mich mit ein paar Vorbemerkungen beginnen:

„Die Begriffe von Religion und Nation, wie sie heute im allgemeinen europäischen Sprachgebrauch verbindlich sind, orientieren sich an bestimmten Modellen, die ihre besondere, unüberschätzbare Bedeutung im Geisteskampf Europas haben“, schreibt der Politologe und Philosoph Eric Voegelin in seinem grundlegenden Werk „Die politischen Religionen“. Die Religion ist als Begriff in diesem Zusammenhang weit gefasst, es geht nicht nur um Erlösungsreligionen, sondern auch um religiöse Erscheinungen beispielsweise im Zusammenhang mit der Staatsentwicklung. 

Auch die Nation, die als Begriff im Umkreis der Französischen Revolution geboren wurde, ist von der Bedeutung weit reichhaltiger als der „Staat“, bezeichnet nicht nur die weltlich-menschliche Organisationsverhältnisse, sondern eine ideele, mitunter metaphysische Beziehung von Geschichte auf Gemeinschaft. Der nicht unumstrittene französische Schriftsteller, Historiker und Orientalist Ernest Renan gilt als zentraler Stichwortgeber für den Nationenbegriff: Als Fundament einer jeden Nation definiert er den „gemeinsamen Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen“. Die Nation sei eine zentrale Vergemeinschaftungsform, die er sich als „große Solidargemeinschaft“ und ein, so seine berühmte Metapher, „tägliches Plebiszit“ eine Art Geschichtsgehäuse vorstellt. Er definiert sie als eine „spirituelle Familie“, zusammengehalten durch „ein gemeinsames Erbe von Ruhm und Reue“: „gemeinsam gelitten, gejubelt, gehofft zu haben das ist mehr wert als gemeinsame Zölle und Grenzen“.Übrigens hat jemand wie Renan die Nation nicht gegen Europa ausgespielt, im Gegenteil träumte er vielleicht ein wenig zu früh und heftig von den Vereinigten Staaten Europa als eine neue Großnation, die sich als Werte und Machtgemeinschaft zum Kampf gegen außereuropäische Konkurrenz behaupten sollte. Der Begriff der Nation ist also eng verbunden mit dem historischen und kulturellen Erbe und in dieser Hinsicht der Religion verwandt. Die Nation, könnte man vielleicht sagen, ist so etwas wie ein alternativer „Letztwert“ für den säkularisierten Menschen.

Simon Strauss, born 1988 in Berlin. Studied Ancient History in Basel, Poitiers, Cambridge and Berlin.
He holds a PhD in classics and works as a journalist and author in Frankfurt.

What does Europe mean for me:
For me, the European spirit is reflected in the three great instances: philosophy, religion and art. The way these three instances wrestle with each other and how they spark with it, shapes my understanding of European culture.

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