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Essay

Das schöne Gestern jenseits der Alpen

Wie Bergamo und Mailand, jetzt Orte des Leidens, mir Heimat wurden.

Wir bewahren alle in uns Bilder der Erinnerung an Augenblicke, die voller Freude waren, Jubelbilder. Eine Art von Glücksbestand, nicht stets gegenwärtig, aber plötzlich auftauchend, sogar bewusst  abrufbar manchmal. Der erste Schnee, eine erster Ferientag, die ersten Fußballschuhe, bestandene Prüfungen später und premier amour, Anlässe des Gelingens von etwas Besonderem. Das sind Bilder, oft bestimmten Orten verbunden, sie lassen, wie Ernst Bloch am Ende von „Das Prinzip Hoffnung“ festhält, in der Welt etwas entstehen, „das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“

Moment eines auf Lebenszeit unantastbaren Glücksgefühls – die erste Ankunft in Bergamo. Wir waren, sehr jung, im Wagen von Arosa her über die Alpen gegen Abend in die lombardische Ebene gekommen. Ein so nie zuvor erlebter Nebel reduzierte die Sicht derart, dass die Begleiterin aussteigen und mit der Taschenlampe vor dem Auto die Straße schrittweise ausleuchten musste. Dann auf einmal seitlich gelbliches Licht von Laternen, vielleicht eine Stadt, aber welche, wo? Ein einsamer Passant, schemenhafte Erscheinung: „Sie sind in Bergamo. Sie halten vor dem Teatro Donizetti, tasten Sie sich ein paar Schritte nach rechts, da gibt es ein Hotel.“
Im „Arlecchino“ war noch ein Zimmer frei. Wir haben in den folgenden Jahren immer wieder dort übernachtet – aber kein Morgen war, als die Jalousien geöffnet wurden, noch wieder wie der nach jener ersten Nacht. Im strahlenden Sonnenlicht der Nebel aufgelöst wie nicht gewesen, der Blick frei von der Unterstadt hinauf auf das alte Bergamo, die Cittá Alta, Stadt in der Höhe, lockend wie ein Versprechen, dessen Erfüllung nicht zurückblieb hinter der Sehnsucht.

Bergamo, fortan führten fast alle italienischen Wege dorthin. Der Lebens-Wunschort. Eine Bleibe für eine gute Zeit, nahe der Accademia Carrara und dem Museum der Moderne, der Lust an Malerei nachgegangen in den Kirchen der Stadt, die Gemälde des ernsten Porträtisten Moroni und Lorenzo Lottos, der seine beste Phase in Bergamo hatte. Die Carrara besitzt von ihm eine „Flucht der Heiligen Familie“, kompositorisch von unvergleichlicher Dynamik. In der kleinen Kapelle S. Bartolomeo Lottos Maria so oft wie möglich wiedersehen wollen, eine Darstellung der Gottesmutter, als wäre sie eine bezaubernd lebhafte Studentin aus den Tagen des Pariser Mai. Auf der Piazza Vecchia der Oberstadt, für den Architekten Frank Lloyd Wright, wie ein Schild mitteilt, wegen des scheinbar mühelos, wie selbstverständlich erreichten Miteinanders von Bauten des Mittelalters bis hin zu solchen des 19. Jahrhunderts, einer der „schönsten Plätze der Welt“; im „Tasso“ dort die besten Casoncelli gegessen und Tignanello getrunken, Favorit der Gefährtin.

Mit Menschen der Stadt und anderen Nächsten, man möchte mit Menschen sein hier, bis in so manchen Abend zusammen gewesen, der Freund Cesare Lievi, Theatermann, Lyriker, Wegbereiter gelegentlich dabei wie Heinrich Klotz, der Historiker, der Bergamo zu rühmen wusste wie niemand sonst. Zu manchen Jahreswechseln am liebsten im „Sole“, auch da oben, hochgemut. Am wehrhaften Campanile der Piazza Vecchia steht es so geschrieben: „Ubi Justitia, Pax, Caritas et Amor – ibi deus est“. Wo es Gerechtigkeit, Friede, Fürsorge und Liebe gibt, dort ist Gott. Das bergamaskische Programm von lange her und noch immer so dringlich wahr wie eh und je.

Und nur fünfzig Kilometer nach Norden, die weltläufigste Erweiterung des Blickfelds, die sich denken ließ: Milano. „Mein Mailand“, hat der am Piccolo Teatro von Giorgio Strehler erzogene deutsche Regisseur Klaus Michael Grüber, durch den Intendanten Kurt Hübner nach Bremen geholt, in seiner ersten Inszenierung dort von Shakespeares „Sturm“, bei deren Proben alles schief ging, und schließlich sogar der Darsteller der Hauptrolle die Premiere nicht spielen wollte, so dass Grüber selbst, in einem Sandloch hockend wie eingegraben die Rolle des in dem Stück aus Mailand vertriebenen Prospero lesen musste – „Mein Mailand“ ist ihm damals in den Sinn und über die Lippen mit soviel Heimweh gekommen, wie das in nur zwei Worten überhaupt möglich ist, die alles verlorene Glück trauernd beschwören.

In Mailand gab es seit den frühen 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts, was es in Bergamo so nicht gab. Eine aufregend provozierende Szene der jungen Kunst-Avantgarde um die Akademie Brera, die in die Stadt (und in das westliche Europa) ausstrahlte. Abenteuerlichste Projekte, Piero Manzoni, früh verstorben, hat mir schlüssig erklären können, warum es notwendig wäre, den Mailänder Dom rosa anzustreichen, Dada Maino sah sich als Architektin der Zukunft, am Corso Montforte residierte, aus Argentinien zurückgekehrt, Lucio Fontana, Maestro der Schnitt-Bilder und Leitfigur der Jüngeren. Wir lasen Fontanas „Manifesto Bianco“, noch in Buenos Aires verfasst, den Aufruf, Kunst und Gesellschaft radikal zu verändern. Das blaue Bild mit sechs Schnitten, das mir zum Geschenk wurde, hat Jahre später mein Schicksal in schwieriger Lage günstig bestimmt. Mailand seinerzeit, wir zeigten in der Kunsthalle der Moderne dort zum ersten Mal die Ankäufe für das neue Frankfurter Museum für Moderne Kunst – es war wie immerzu Frühling.

Auch im Theater. An Giorgio Strehlers Piccolo habe ich seine Erfüllung von Becketts „Glückliche Tage“ sehen dürfen, die Aufführung endend nicht in Trauer, sondern als jubelnde Himmelfahrt. Mit der großen Giulia Lazzarini als Winnie, ihr freundschaftlich verbunden bis in diese Tage. Und sehen dürfen auch Strehlers Lieblingswerk natürlich, Goldonis Harlekinade „Diener zweier Herren“. Viele Male, sogar als Gastspiel in Venezuela, wohin das Theater den Deutschen mitnahm. Dankbar dann für Lessings „Minna von Barnhelm“ mit Andrea Jonasson, Strehlers herrlicher Liebe, einen seltsamen Text für das Programmheft geschrieben. Lächeln, dass es gewesen.

Keineswegs nur beiläufig gelebt noch andere milanesische Aventüren. Es war ja nur eine knappe Flugstunde von Frankfurt nach Mailand-Linate, mit einem guten Wagen in acht Stunden zu fahren. So war auch die schwarzhaarige Grammatik nie zu weit. Wie ebenso die wichtigen Derbys nicht zwischen Inter und Milan, da musste man doch dabei sein. Mitsamt der Debatten darüber im von den Inter-Stars bevorzugten, noblen „La Collina Pistoiese“. Aber gleich nach den Spielen vor allem in der Galleria Vittorio Emanuele II, dem hohen Wunderwerk aus Stahl und Glas, eröffnet 1867, zwischen dem Domplatz und der Scala, für die Bürger „Il Salotto di Milano“, das Wohnzimmer ihrer Stadt. Immer, wenn es etwas zu feiern gab oder eng wurde, haben sie sich dort versammelt und sich verständigt über ihre Lage.

Nicht einmal mehr das ist heute, Zeit von Tod und Verderben, den noch überlebenden Menschen erlaubt. Glück und Glas – wie leicht bricht das. Nicht mächtiger als die hellen Erinnerungsbilder der Freude und doch sie bedrängend sind jetzt die dunklen Ängste und das Entsetzen angesichts der in der Lombardei immer noch anwachsenden Zahlen der Opfer der Pandemie. Die Bilder aus Bergamo der Kolonne von Lastwagen, beladen mit den Leichen. Leer die Straßen, auf denen wir gegangen sind, die Plätze, wo wir wie zu Hause waren. Und wo Heimat schien. Aber, sagt Horaz in einem den Freund und Förderer Maecenas mahnenden Gedicht (Oden Buch II ,3): „Ob du nun immerzu traurig gelebt hast/oder dich ausgestreckt auf entlegener Wiese/an festlichen Tagen erfreut hast an altem Falernerwein – Wir müssen alle an den gleichen Ort.“ Omnes eodem cogimur. Und nur die Gewissheit, die eigene Erinnerung an das letzte Bild, das noch vor Augen kommt – es wird sie nicht geben. Sapere audi. Wage, das zu wissen.

Peter Iden, 1938 geboren, studierte Philosophie in Frankfurt am Main und Wien, war von 1978 bis 1989 Gründungsdirektor des Museums für Moderne Kunst und bis 2000 Ressortleiter Feuilleton der Frankfurter Rundschau. Er ist Ordentlicher Professor und Leiter der Abteilung Schauspiel an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt sowie Theater- und Kunstkritiker.

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