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Allgemein#Essay

Über Grenzen hinweg – Die Bibel als Brücke in und für Europa?

Ein Kommentar von Julia Henningsen.

In den letzten Monaten wurden die Grenzen vieler europäischer Länder zeitweise geschlossen. Auch der Europäische Bibeldialog zum Thema „Für ein gerechtes Europa“ in Zusammenarbeit mit der „Gemeinschaft Europäischer Kirchen in Europa“ konnte daher nicht wie geplant stattfinden. Dafür hat die Studienleiterin der Evangelischen Akademie zu Berlin Tamara Hahn einen Text unter der Überschrift „Beobachtungen in einer veränderten Welt“ (https://www.eaberlin.de/nachlese/chronologisch-nach-jahren/2020/blog-beobachtungen-in-einer-veraenderten-welt/beobachtungen-in-einer-veraenderten-welt-11/) geschrieben und dabei von vergangenen Treffen berichtet, bei denen nationale Differenzen durch das persönliche Gespräch über das Buch der Bücher überbrückt werden konnten. Das Gespräch über die Bibel habe Freundschaften entstehen lassen, die über moderne Kommunikationswege gepflegt werden. Besonders jetzt in dieser Krisensituation zeigen sich Gefühle der Verbundenheit über Grenzen hinweg. Einblicke in das Leben der Menschen, wie sie in ihren Ländern mit den Beschränkungen umgehen, sind möglich. Hahn betont: „Wir bleiben in Kontakt, weil wir einander ja schon als Person wahrgenommen haben: nicht als Polin, Russe oder Niederländer, sondern als Mensch, Christ oder Muslim oder Jüdin oder konfessionslos – Europäer*innen eben;  Brüder und Schwestern, biblisch gesehen.“

Gibt es noch Europäer?

Sie macht sich trotzdem Sorgen um all die europäischen Projekte, die Begegnungen zwischen Europäer*innen fördern. Und sie mahnt die Ungerechtigkeit gegenüber europäischen Bürgerinnen und Bürgern an – aber noch viel mehr die Ungerechtigkeit an Europas Grenzen. Ganz offen fragt Hahn nach Identitäten in diesen Zeiten von Abgrenzungen: „Wenn ich mein Land nicht mehr verlassen kann, bin ich dann überhaupt noch Europäerin? Gibt es noch Europäer und Europäerinnen oder sind wir jetzt doch wieder nur Deutsche, Polinnen, Rumänen …?“ Einen Ausblick auf die Zukunft der Bibeldialoge bieten ihr das Streben nach Gerechtigkeit sowie die gegenseitige Teilhabe an Gedanken, Gefühlen und Erlebnissen. Das immer wieder Anfangen – besonders in und nach Krisenzeiten – scheint für sie etwas fundamental Europäisches zu sein.

Die Bibel als Einheitsbringer

Wie aber kann ausgerechnet die Bibel zu einem verbundenen Europa beitragen? Schaffen das nicht auch allein schon die digitalen sozialen Medien? Immer mehr Menschen nutzen diese Wege, um sich zu informieren, sich auszutauschen, zu kritisieren. Ganz schnell und direkt und oft auch sehr persönlich. Wie Hahn bemerkt, gibt es zahlreiche Programme, die das Projekt Europa stärken sollen. Ist es in solchen Zeiten nicht eher mühsam, sich mit einem alten religiösen Buch zu befassen, in dem das Wort Europa nicht vorkommt?

Bei den Europäischen Bibeldialogen sprechen Menschen aus unterschiedlichen europäischen Ländern miteinander über die Bibel, welche in die vielfältigen Leben von Europäerinnen und Europäern hineinwirkt. Dabei treten sie nicht nur in einen Austausch miteinander, sondern spüren auch die innere Verbindung zu Gott. Ein Gott, der  geschlossene Ländergrenzen und fixierte Identitäten auflöst. Die Bibel ist voll von Krisen, die Menschen miteinander und auch mit ihrem Gott erleben. Dabei stoßen sie an äußere und innere Grenzen. 

Die Bibel kennt zwar nicht das heutige Europa, dafür aber hält sie viele Zeugnisse von Ungerechtigkeit, Krisen und Neuanfängen bereit, formuliert z.B. in Berichten über Plagen und Rettung, in Klage- und Dankpsalmen und besonders in den Evangelien, wenn von Jesu Tod und Auferstehung erzählt wird.

Bibel als Brücke zwischen Menschen

In solchen existenziellen Situationen wie der jetzigen, in der ein Virus die ganze Menschheit in eine Krise führt, beweisen Glaube und Religion ihre Eigenschaft als verbindende Kraft zwischen Menschen verschiedener Nationen. Der Glaube bringt die eigentliche Identität eines jeden hervor – die Bibel kann dabei Brücke zu Gott sein und die biblische Sprache kann als Brücke zwischen Menschen dienen. Dialoge mit Gläubigen anderer Religionen lassen weitere wichtige Brücken entstehen, die Europas Identität nach innen und außen mitbestimmen. Dabei wird Europas Auftreten nach außen hin durchaus hinterfragbar, z.B. bezüglich der Fluchtthematik.  

Werden diese Brücken von jungen Europäerinnen und Europäern neu aufgebaut, gepflegt und immer wieder genutzt, wird sich auch das Projekt Europa durch diese Krise weiterentwickeln.

In diesem Sinne passt der Titel des für Oktober 2020 angekündigten Europäischen Bibeldialogs in Siebenbürgen, Rumänien: „Verzage nicht!“ Ob er stattfinden wird, steht im Moment allerdings wieder in den Sternen. 

Julia Henningsen, 32, ist ausgebildete Gymnasiallehrern für Englisch und Ev. Religion. Nach der wissenschaftlichen Mitarbeit in einem DFG-Projekt in Bamberg, steht sie nun kurz vor dem Abschluss ihrer Promotion Fach Religionspädagogik bei Prof. Dr. Henrik Simojoki. Zur Zeit arbeitet sie als religionspädagogische Referentin im Bibelzentrum Schleswig. 

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