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European Archive#Veranstaltungen

Ist Europa ein Zuhause? Eindrücke aus Zagreb

Von Nora Sefa.

Zagreb im Oktober. Die Spuren der Erdbebenserie vom 22. März 2020 sind noch immer sichtbar. Ich frage mich, ob ich irgendetwas davon gelesen oder gehört habe, als es passierte. Waren wir im März nicht alle sehr mit uns selbst beschäftigt? Ich erinnere mich, wie ich wenige Tage vor dem Lockdown mit einen Bücherstapel auf dem Schoß vor der Universitätsbibliothek saß. Ich hatte Bücher „gehamstert“, denn es hieß die Bibliotheken schließen bald und überhaupt schien alles sehr ungewiss. In den Medien dominierte Corona. An ein Erdbeben in Zagreb erinnere ich mich nicht. Gemeinsam mit der kroatischen Germanistin Aida Alagić sitze ich in einem Taxi in Richtung Veranstaltungsort. Heute Abend werden wir beide auf einem Podium des hiesigen Goethe-Instituts über unsere Erfahrungen mit dem Projekt „European Archive of Voices“ sprechen — und über Europa ganz allgemein.

„Je li Europa dom? – „Ist Europa ein Zuhause?“ lautet der Titel der Veranstaltung. Aida, die ich kurz vorher in der Hotelbar treffe, erzählt mir, das Schlimmste seien die vielen kleinen Beben in den Folgetagen, nach der ersten großen Erschütterung, gewesen. Sie ließen den Zagrebern keine Ruhe. Das Epizentrum lag nur wenige Kilometer von der kroatischen Hauptstadt entfernt. Während sich unser Taxi vorbei an jugoslawischer Plattenbau-Architektonik und Gebäuden im Stil des Brutalismus, der sehr „europäischen“ Altstadt nähert, fallen mir die vom Erdbeben teilweise bloßgelegten Fassaden auf. Einige wurden offenbar schon wiederhergestellt, andere sind noch mit Gerüsten verkleidet. Auf den Bürgersteigen sieht man immer wieder Schutthaufen. Zagrebs Architekturmix erinnert mich an mein Interview für das Stimmen-Archiv mit dem kosovarischen Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Rexhep Qosja. Der Balkan, sagte er, sei seit Jahrhunderten ein Ort gewesen, an dem Ost und West aufeinanderprallten. Diese Begegnungen seien oft ein Kampf um Vorherrschaft zu Lasten des Balkans gewesen. Jedoch hätten sich hier die westlichen und östlichen Kulturen getroffen, vermischt und angereichert. In Zagreb lässt sich das gut beobachten.

Einiges Europa – gespaltenes Europa? 

Mit Aida und mir werden auch die Frauenrechtsaktivistin Marinella Matejčić und der Historiker Tvrtko Jakovina auf der Bühne sitzen. Ich gehe im Kopf einige Schlagworte, die in den Fragen des Moderators auftauchen, durch: Vereinigung von Ost-West, deutsche Führungsrolle in der EU, Merkel, 2015, „Politik der offenen Tür“, Flüchtlinge. „Wie hat sich Europa verändert und wie stehen die Deutschen inzwischen zu Europa?“ Ich denke weiter: Klimakrise, Corona, Moria, drohende Wirtschaftskrise. Meine Befürchtungen werden sich wohl bestätigen. Es wird am heutigen Abend vermutlich nicht um das „Einende“ in Europa gehen, sondern um das, was uns spaltet. Es sind noch zwei Tage bis zum 30. Jahrestag der Deutschen Einheit. Der Moderator wird mich später fragen, wie sich Europa aus meiner Sicht – einer Kosovarin, die „als Gast“ nach Deutschland kam (ich werde korrigieren: „als Flüchtling“) – in den 30 Jahren seit der Wiedervereinigung entwickelt hat. Ich überlege mir kluge Antworten, um diese sogleich wieder zu verwerfen. 

Der Raum im Kulturzentrum Urania, ein ehemaliges Kino (man munkelt, es handelte sich dabei um ein pornografisches Kino namens „Partizan“), füllt sich langsam. Hygienebestimmungen tun ihr Übriges und wir tänzeln umeinander herum, begrüßen uns ungelenk. Dragan Nikolić, der Moderator fragt in die Runde, wann man sich zum ersten Mal als Europäer gefühlt habe? Aida, Marinella und Tvrtko erzählen von Ihren Reiseerfahrungen im außereuropäischen Ausland, da sei ihnen bewusst geworden, wie privilegiert sie mit einem EU-Pass sind. Tvrtko kritisiert jedoch, die europäische Integration sei in Kroatien noch nicht vollzogen, denn die europäischen Werte hätten sich nicht durchgesetzt. Marinella pflichtet ihm bei und sagt, es brauche mehr Europa im Schulunterricht, die Schüler lernten immer noch hauptsächlich über nationale Politik und hätten keine Ahnung von den EU-Institutionen. Ich verstehe, was die beiden meinen. Auch im Kosovo seien die europäischen Werte noch nicht angekommen, erinnere ich mich an Qosjas Worte im Interview. Ist der Balkan „integrierbar“ oder sind wir zu unterschiedlich, um in einer Union gemeinsam zu bestehen? Aida erinnert an das Ziel der Interviewserie, sich dem Projekt „Europa“ kulturell zu nähern und so ein Narrativ zu schaffen, das die Gemeinsamkeiten und aber auch die Unterschiede positiv hervorhebt.

Der Moderator fragt mich, wie ich, als in Deutschland lebende Kosovarin, Europa sehe. Ich erkläre ihm, dass ich zwei Perspektiven auf Europa habe. Eine von innen und eine von außen. Als deutsche Staatsbürgerin, lebe ich in dem Land, das immer wieder eine Führungsrolle in der EU einnimmt und viel Gewicht hat. Die Innenperspektive offenbart mir aber auch die vielen Mängel, die fehlende Solidarität, die immer wieder deutlich wird, die großen Unterschiede, vor allem ökonomisch und die damit einhergehende soziale Ungleichheit. Als Kosovarin aber, schaue ich von außen auf Europa und spüre die Sehnsucht meiner Landsleute, Teil des „Clubs“ zu werden und auch die Privilegien europäischer Staatsbürger zu genießen. 

Wie befürchtet, driften wir auf dem Podium in eine Debatte über jene beschriebenen Mängel innerhalb der Union ab. Es geht um Europa „am Scheideweg“. Erneut ergreife ich das Wort und erzähle, wie ich zunächst zweifelte, als ich gebeten wurde, für das „European Archive of Voices“ ein Interview in Kosovo zu führen. Ich dachte, Kosovo passt doch gar nicht in diese Runde, wir haben doch gar keine gemeinsame Erzählung. Und in der Tat einige historische Ereignisse spielen im kollektiven Gedächtnis westlicher Europäer eine deutlich größere Rolle, als auf dem Balkan. Während zum Beispiel der Zweite Weltkrieg in den meisten Interviews, mit den, in den 30er und 40er Jahren geborenen Gesprächspartnern ein zentrales Thema darstellt, nahm dieser Krieg im Interview mit Qosja nur wenig Raum ein. Vielmehr ging es um die sogenannte „Albanische Frage“, um die kosovarischen Unabhängigkeitsbestrebungen in Zeiten Jugoslawiens und danach. Und dennoch, auf Europa kamen wir immer wieder zu sprechen, auf zentrale Momente in der Geschichte, in denen Europa eine große Rolle auf dem Balkan und somit auch für die Albaner spielte. „Die Albaner wollen Teil Europas werden“, sagt Qosja. Ich denke, sind wir denn nicht schon in Europa? 

Foto: Josip Ninković

Mehr als nur Reisefreiheit und „Freizügigkeit“

Am Tag nach der Veranstaltung gehe ich zu Fuß in die Zagreber Innenstadt und laufe noch einmal die Route ab, die der Taxifahrer am Vorabend gefahren war. Als ich in die prächtige Nikola-Tesla-Straße abbiegen will, steigt mir plötzlich dieser Duft in die Nase. Gegrillte Maiskolben. Ich kaufe einen und setze mich auf eine Bank. Kurz werde ich melancholisch. Das erste Jahr seit vielen, in dem ich im Sommer nicht nach Kosovo gefahren bin. Kein Besuch dort bleibt ohne gegrillte Maiskolben aus – und den Duft, der sich seinen Weg durch die Straßen bahnt. 

Die Kroaten sind ein Jahr vor mir EU-Staatsbürger geworden, 2013 war das. Dem EU-Beitritt ging ein Referendum voraus, in dem 66 % für Europa stimmten. Ich wurde erst 2014 deutsche Staatsbürgerin. Mein erster richtiger Aufenthalt in Kroatien war eine Klassenfahrt im Jahr 2011, davor war es für mich nur Transitland auf dem Weg in den Kosovo. Damals reiste ich noch als kosovarische Staatsbürgerin mit einem Pass des ehemaligen Jugoslawiens, sowie zwei weiteren Dokumenten der deutschen Behörden ein. Unter meinen Klassenkameraden war ich die einzige im Bus, deren Dokumente der kroatische Grenzer in seine Kabine mitnahm, um sie genauer zu betrachten. Wie angenehm ist das Reisen nun als EU-Bürgerin in ein EU-Nachbarland!

Am dritten Tag, drückende Schwüle. Die Wolken hängen schwer über Zagreb. Ein letzter Kaffee bevor ich zum Flughafen aufbreche. Es ist Nachmittag, die Terrassen der Kaffeehäuser sind voll. Auch das Café, das ich mir aussuche, ist bis auf den letzten Tisch belegt. Ich setze mich mit großem Abstand zu einem älteren Herrn an den Tisch. Wir kommen ins Gespräch, tauschen uns aus über Herkunft und Wetter. Irgendwann frage ich: „Was hat sich in Kroatien verändert seitdem es in der EU ist?“ – „Nichts!“, sagt er, gespielt enttäuscht. Er sei aber ein Pro-Europäer und habe im Referendum für den Beitritt gestimmt. Der Mann heißt Miro und hat jahrzehntelang in der Schiffsfahrt gearbeitet, nun ist er Rentner. Ich schmunzle und sage, dass ich nicht glauben kann, dass sich nichts geändert hat. Immerhin könne er nun unbürokratisch in die EU reisen und sich aussuchen, wo er leben möchte. Im nächsten Moment ärgere ich mich, dass mir kein besseres Beispiel einfällt, als das ewige Argument des Rechts auf Freizügigkeit innerhalb er Union. Ist denn die EU nicht mehr als das? Die EU verstehe nicht, wie die Kroaten ticken, sagt Miro. Die Korruption sei immer noch so hoch, wie einst, viele Menschen seien arbeitslos und arm, ich solle mich nicht von den Leuten um uns herum beirren lassen, die sich die Kleidung in den Luxusboutiquen der Zagreber Altstadt leisten können. Außerdem sei die kroatische Präsidentin ‚poubelle‘, spricht er weiter in einem Mix aus Englisch, Französisch und Deutsch. Ob ich in Deutschland Arbeit habe und meine Familie auch, fragt er. Ich nicke – in Kroatien sei das nicht selbstverständlich. Deutschland aber sei das beste Land und Merkel die beste Präsidentin der Welt, sagt er und lächelt freundlich. Ich muss mich verabschieden, er richtet sich auf, verbeugt sich und drückt mir einen kleinen getrockneten Blumenstrauß in die Hand, den er zuvor von einem Roma-Mädchen abgekauft hatte. Die Blumen stehen nun in einer Vase in Frankfurt.

Foto: Josip Ninković

Europa – ein Zuhause

Was ich auf dem Podium des Zagreber Goethe-Instituts nicht mehr sagen konnte, ist dass, das „European Archive of Voices“ zeigt, dass Europa mehr ist als die Summe der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und, dass es weder Europa noch der EU gerecht wird, es ausschließlich auf das Politische zu reduzieren. Denn gerade da wird man viele Mängel finden. Die gemeinsame Geschichte der Staaten Europas, mit ihren vielen Überschneidungen (auch wenn vieles davon hässlich war) macht deutlich, dass wir so etwas wie ein gemeinsames kollektives Gedächtnis und somit auch eine gemeinsame europäische Kultur haben. Dabei glaube ich, dass es gerade für die durch Kriege entwurzelten Generationen heilsam war, ihre Identität auf Europa und nicht auf Nationalstaaten aufzubauen.

Die europäische Integration hat den Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg wieder Würde verliehen: Sie fanden sich wieder unter gleichen, unter Europäern. „Europa ist ein Versprechen an die Völker Europas“, sagte Rexhep Qosja. „Unsere Zukunft ist Europa. Wir haben keine andere“, wird Hans Dietrich Genscher von Kristine Petrušić  vom Goethe-Institut Kroatien zitiert. Die europäische Geschichte zeigt, dass Europa, Erinnern, Verstehen und Verzeihen und zwar alles gleichzeitig möglich macht. Aus Kosovo stammend und einer Generation angehörend, die die Folgen der Jugoslawienkriege bis heute spürt – den Hass, die Wut, die Spaltung – sehne ich mich danach, dass der Balkan vollwertiger Teil Europas wird, auch institutionell. So wie es mit Kroatien bereits geschehen ist. Sodass auch dieser Teil Europas – um auf die Fragestellung der Veranstaltung „Je li Europa dom?“ zurückzukommen – behaupten kann: Europa ist ein Zuhause.  

Nora Sefa wurde 1992 in Prishtina geboren und lebt seit ihrem 5. Lebensjahr in Deutschland. Sie studierte Russische Sprache und Kultur und Sozialwissenschaften in Würzburg, Moskau und Sankt Petersburg und macht zurzeit einen Master in Friedens- und Konfliktforschung an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Sie ist als freie Journalistin und für das Deutsche PEN-Zentrum tätig.

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