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Essay

Auf dem Weg von Aleppo ins Schwabenland

„Europa kann ich aus meiner Sicht als Retter betrachten; ein Retter, der meiner, durch den Syrien-Krieg aussichtlos gewordenen, Zukunft eine neue Lebensperspektive gegeben hat, und mir unter die Arme gegriffen hat hinsichtlich verschiedener Inhalte: Sicherheit, Freiheit, ausreichende Nahrung, Arbeitsverhältnisse, Wohnmöglichkeiten, freie Entfaltung der Persönlichkeit.  

Was jedoch den Glanz trübt, ist die Bürokratie. Man gewinnt den Eindruck, dass man sich dauernd in einem Warteraum befindet. Dies betrifft nicht nur die eigentlich bürokratischen Prozesse, sondern auch das Leben selbst. Ständig wartet man auf eine Entscheidung; Asylantrag, Niederlassung…

Man kann erst richtig leben, wenn die Entscheidung positiv ausfällt.“

Auszug aus dem Buch „Auf dem Weg von Aleppo ins Schwabenland“ von Malek Mansour:

Chios

Der Motor startete, wir verließen die türkische Küste mit einem bangen Gefühl, aber auch voller Hoffnung. Auf dem Boot lernte ich einen weiteren Syrer kennen: Er hieß Khaled und stammte ebenfalls aus Aleppo. Zunächst war er distanziert und gab nur einsilbige Antworten. Womöglich war er verängstigt. Die erste Stunde ging vorbei, und wir waren uns unsicher, ob wir uns nicht bereits in griechischen Gewässern befanden. Wir navigierten mit unserem Handy GPS, aber mittlerweile hatten wir keinen Empfang mehr. Auf einmal stellten wir fest, dass Wasser ins Boot drang. Das löste Panik aus. Schnell fanden wir auch die Ursache: Das Boot war völlig überladen. Um dem entgegenzuwirken, warfen wir so viele Sachen wie möglich über Bord. Darunter waren auch meine Taschenlampe und meine restliche Kleidung. Glücklicherweise stabilisierte sich das Boot danach wieder. Nach einer Weile wurden sowohl andere als auch ich selbst seekrank. Nach zwei denkwürdigen Stunden erblickten wir von Weitem einige Inseln.

Die Leute auf dem Boot jubelten maßlos, wie wenn man einen Vogel aus dem Käfig entlässt. Auch Khaled wurde ein ganz anderer Mensch. Er sprudelte nur so über beim Reden. Vor uns waren drei Inseln zu sehen. Nach kurzem Zögern einigten wir uns, die mittlere Insel anzusteuern. Eine halbe Stunde später standen wir am Strand. Es war gegen 16 Uhr. Wir konnten keine Menschenseele entdecken. Die Situation war irgendwie gespenstisch. Einer wollte in Erfahrung bringen, wie man zur Stadt kommt. Aber wir sahen uns mit einem Problem konfrontiert: Die Insel war hügelig und es gab, soweit wir das erkennen konnten, keine festen Wege. Dennoch ging einer los, um Hilfe zu holen. Währenddessen überprüfte ich, ob mein Geld und mein Handy in Ordnung waren. Traurigerweise fiel mir auf, dass mein Handy vom Meerwasser nass geworden war und nicht mehr funktionierte. Mit großer Ernüchterung kam unser Kundschafter zurück. Er sagte, die Insel sei eine Geisterinsel. Ein anderer erwiderte: „Kennt ihr die amerikanische Serie Lost?“ Alle lachten. Als die Sonne untergegangen war, hatten wir allerdings nichts mehr zu lachen. Es war kalt, unsere Klamotten waren feucht. Wir waren einfach nur machtlos. Bis einem von uns eine brennende Idee kam: mit dem Benzin vom Bootsmotor einige unserer Kleidungsstücke anzuzünden. Dadurch entstand ein Feuer mit einer großen Rauchwolke. Wir waren kurz vor dem Erfrieren, als sich ein Wunder ereignete. Ein Boot der griechischen Küstenwache hatte unser Feuer entdeckt. Über einen Lautsprecher gaben sie uns zu verstehen, dass wir hinüber zum Boot schwimmen sollten, denn die Felsen am Strand versperrten ihnen den Weg zu uns. Aber die Hälfte von uns konnte nicht schwimmen, obwohl sie Erwachsene waren. Mithilfe von Schwimmreifen gelang es ihnen dann, das Boot zu erreichen. Nach dieser Rettungsaktion brachte uns die Küstenwache auf eine bewohnte Insel.

Sie setzten uns im Morgengrauen ab, es gab keine Unterkünfte, wo man hätte unterkommen können. Zum ersten Mal erlebte ich das Gefühl der Obdachlosen und der Vertriebenen aus den umkämpften Kriegsgebieten. Ich war sehr verzweifelt und ich fühlte mich erschlagen. Unsere einzige Alternative war, auf der Straße zu schlafen.

Am nächsten Tag kamen Leute von einer Hilfsorganisation, die sich dafür einsetzten, dass wir in eine Unterkunft gebracht wurden. Von dort brachten sie uns nach und nach mit einem Schiff auf eine andere Insel, Chios. Dort wurden wir von derselben Hilfsorganisation aufgenommen.

Im Anschluss wurden wir zu einer abgenutzten Unterkunft gebracht. Diese sah so bedrohlich aus, dass es sich anfühlte, als hätte man uns gefangen genommen. Verstopfte Toiletten, defekte Duschen, verriegeltes Tor. Khaled murmelte in sich hinein: Kann mir jemand sagen, ob wir noch in Syrien sind? Ich fügte hinzu: hier gibt es wenigstens, im Gegensatz zu einem syrischen Gefängnis, Essen und frische Luft.

Die Nacht war am schlimmsten, auf der einen Seite die unerträgliche Feuchtigkeit und auf der anderen Seite die Schnaken, die uns ohne Gnade stachen. Dazu noch die Schnarcherei der anderen, die nach einer verstimmten Symphonie klang. Zwischenzeitlich war ich melancholisch und fragte mich, ob mein Geld bis an mein noch unbekanntes Ziel reichen würde. Als sich der nächste Tag anbrach, durften wir die Unterkunft verlassen. Ich begab mich mit Khaled in ein Reisebüro, um ein Fahrticket für die Fähre nach Athen zu erwerben. An der Theke riss ich mich zusammen und versuchte, mein Englisch anzuwenden. Trotz gebrochenem Englisch konnte der Mann an der Theke verstehen, was ich wollte. Für die Fahrt gab es zwei Alternativen: Entweder ein Fahrticket für 25 Euro ohne Übernachtungsmöglichkeit oder mit Übernachtungsmöglichkeit für 50 Euro. Die zweite Variante war für uns verlockend. Aber wir zögerten ein wenig und wollten uns die Sache durch den Kopf gehen lassen. Wir entschieden uns schließlich doch für das zweite Angebot. Ein kleines Problem ergab sich dadurch, dass die Fähre erst am Abend fahren würde und wir noch einen langen Tag vor uns hatten. So wanderten wir über die Insel und stillten unseren Hunger, danach kauften wir neue Kleidung, damit unterwegs nicht durch schmutzige Kleidung sofort als Flüchtlinge erkennbar waren. Nach diesem mühseligen Tag waren wir platt. Wir lagen am Ufer und warteten auf die Fähre. Ich zweifelte hinsichtlich meiner Zukunft: Wo würde ich landen? Ich habe so viele Kilometer hinter mir, ohne zu wissen, wo meine Endstation sein könnte. Bin ich auf mich alleine gestellt, oder würde es reichen, wenn ich vom Schicksal getragen werde?

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