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Essay

Öffentliches Christentum im europäischen Ernstfall

Ein Vergleich kirchlicher Europamodelle aus sozialethischer Perspektive.

„Großbritannien braucht das Evangelium Christi, nicht die Europäische Union. Unsere britische Nation ist gottgegeben über viele Jahrhunderte. Sie ist nicht dazu da, um von Politikern verhandelt zu werden. Gott gewährt die Sicherheit und den Wohlstand einer Nation. Britannien muss IHN ehren und darf sich nicht an die Europäische Union klammern.“[1]

Mit dieser Entgegensetzung von Christentum und Europäischer Union reagierten im März 2019 Demonstrierende auf die Brexit-Verhandlungen. Das pathetische Statement verweist auf einen bemerkenswerten Sachverhalt rund um das Referendum: Neben Bildungsgrad, Alter und regionalem Kontext bildete Religion einen unabhängigen Faktor für das Abstimmverhalten. Am stärksten dominierte der Austrittswunsch unter distanzierten anglikanischen Kirchenmitgliedern. 69 Prozent stimmten für den Austritt, lediglich 31 Prozent für den Verbleib.[2] Unter kirchennahen Mitgliedern war das Stimmverhalten zwar weniger eindeutig (55:45 Prozent für Brexit). Allerdings zeigt sich, dass die drei zentralen Motive für Austrittswillige – nationale Souveränität, Begrenzung von Einwanderung und Stärkung der Sozialsysteme – bei anglikanischen Christinnen besonders verfingen.

Wie hält das Christentum es mit Europa? Diese Frage steht im skizzierten Projekt im Fokus. Als ‚europäischer Ernstfall‘ werden drei Krisen gefasst: Die Krise infolge des Scheiterns der europäischen Verfassung in den 00er Jahren, die Finanzkrise seit 2008 und schließlich die Migrationskrise seit 2015. Die drei Debattenstränge bilden somit das Material für kirchliche Europamodelle. Entsprechende Positionierungen wurden innerhalb der katholischen, protestantischen und orthodoxen Konfessionsfamilien untersucht. Neben theologiegeschichtlichen Aspekten wurden transnationale mit nationalen Kontexten abgeglichen, um konfessions- und nationsspezifische Faktoren zu bestimmen. Polnischer und französischer Katholizismus wurde mit dem Heiligen Stuhl, deutscher und ungarischer Protestantismus mit der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) sowie griechische und serbische Orthodoxie mit dem Ökumenischen Patriarchat verglichen.

Insgesamt wurde die bleibende Dominanz des Katholizismus deutlich. Als mitglieder-, aber auch strukturstärkste Konfession Europas vermag es die katholische Kirche besonders, sich an europäischen Debatten zu beteiligen, eine gemeinsame Position zu vertreten und über nationale Kontexte hinweg zu vermitteln. Vereinzelt traten kontextuelle Besonderheiten hervor. Die französische Bischofskonferenz stellte sich in der Verfassungsdebatte gegen einen Gottes- bzw. Christentumsbezug, was der Haltung des Heiligen Stuhls widersprach. Die polnische Bischofskonferenz ging in der Migrationskrise auf Distanz zu Papst Franziskus und suchte Nähe zur PiS-Regierung. Insgesamt konnte der Katholizismus durch sein weltkirchliches Selbstverständnis und die starke Rolle des Heiligen Stuhls aber in allen drei Krisen Profil und Potenzial zur Vermittlung zeigen.

Im Vergleich dazu dominierten im protestantischen Spektrum die nationalen Denkmuster weitaus stärker. Die Bemühungen um verbesserte Repräsentationsstrukturen auf EU-Ebene nahmen im Zuge der friedlichen Revolution zwar zu. Dennoch steht der Protestantismus normativ und strukturell weiter vor der Herausforderung, eine Haltung zur europäischen Einigung zu finden. In den nationalen Protestantismen wird dies etwa an einer geringfügigen Wahrnehmung GEKE deutlich. So konnte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) als deutlich mitgliederstärkste Kirche für den Gottesbezug eintreten, während der institutionalisierte europäische Protestantismus seine Leidenschaftslosigkeit für dieses Anliegen unverhohlen zeigte. Zudem sticht in der Migrationskrise der scharfe Dissens zwischen der EKD und der Reformierten Kirche in Ungarn, die eng mit ihrem prominenten Mitglied Viktor Orbán verbunden ist, hervor.

Im Unterschied dazu stand die Orthodoxie allein regional der zunächst westeuropäischen Integration distanziert gegenüber. Antiokzidentalistische Traditionen sind durch die EU-Erweiterungspolitik aber teils verblasst. Das Ökumenische Patriarchat hat sich im Zuge der friedlichen Revolution der EU symbolisch und theologisch angenähert. In der griechischen Orthodoxie reaktivierte die Finanzkrise zwar das antiokzidentalistische Ressentiment. Allerdings wuchsen auch diakonisches Engagement und die Bemühung um eine sozialethische Reflexion. Das Europabild der serbischen Orthodoxie bleibt durch die Jugoslawienkriege und den unklaren Status des Kosovo belastet, wenngleich auch hier Veränderungen durch die Beitrittsverhandlungen festzuhalten sind.

In ökumenischer Hinsicht ist der vielfach vorgetragene Anspruch, ‚mit einer Stimme‘ sprechen zu wollen, nicht mit der Wirklichkeit abgleichbar. Am ehesten waren Schnittmengen in der Verfassungsdebatte und der Migrationspolitik zu erkennen. Ansonsten dominierte in Verlautbarungen oft die schlichte Einsicht, dass die Kirchen sich unterscheiden. Ergänzend traten blasse bis nichtssagende Kompromissformulierungen hinzu. Bemerkenswert ist zudem, dass die intensivierte ökumenische Kooperation der 1990er Jahre zuletzt zurückgegangen ist. Dem ‚Europa der Bürger‘ sind nur bedingt Formate gefolgt, die einem ökumenischen Christentum in Europa eine Plattform geben. Eine stärkere innerkonfessionelle, aber auch ökumenische Vermittlung ist damit das zentrale Desiderat dieser Arbeit. Eine regelmäßige Verständigung über europapolitische Kontroversen nicht allein unter Klerikern, sondern auch unter christlichen Laien wäre von großer Bedeutung. Das Christentum würde zu einer Vitalisierung der europäischen öffentlichen Sphäre beitragen – und seiner öffentlichen Verantwortung weitaus stärker gerecht werden.


[1] Originalwortlaut ist einsehbar bei: Greg Evans, Pro-Brexit Activists outside parliament are claiming God and the Bible are against the EU, in: indy100 from Independent, 14. März 2019, https://www.indy100.com/article/brexit-activists-god-bible-religion-leave-eu-no-deal-parliament-video-8822406 (01.03.21).

[2] Vgl. Greg Smith und Linda Woolhead, Religion and Brexit: populism and the Church of England, in: Religion, State and Society 46 (2018), 206–223, hier: 216.

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