An einem Freitagabend im März saß eine Gruppe aus deutschen, niederländischen und italienischen Gästen in einem klassischen Restaurant in Trastevere, Rom, um die Veröffentlichung eines Buchs festlich zu feiern.
Kaum waren jedoch die großen Spaghettiteller abgeräumt, rückten die jungen Europäer ihre Stühle näher zusammen und schauten mich – den Dänen – mit ernsten Blicken an.
Glaubst du, dass es die Amerikaner ernst meinen? fragten sie. Könnte unser alter Verbündeter wirklich in Betracht ziehen, Grönland zu annektieren? Was würde das für das dänische Selbstverständnis bedeuten?
Am selben Tag hatte US-Vizepräsident JD Vance Nordgrönland besucht. Meine europäischen Bekannten waren sich des Zwecks seiner Reise bewusst – und sie fürchteten die indirekten Folgen:
Wenn sich der Konflikt verschärft, sollten dann die restlichen Europäer reagieren? Oder sollen wir uns zurückhalten, um keine Eskalation zu provozieren, die die US-Unterstützung für die Ukraine gefährden könnte – und damit Europas Freiheitskampf?
An diesem Abend in Rom dachte ich, dass der Ernst der Gegenwart gerade dabei war, die Vergangenheit einzuholen.
Von außen musste die Szene absurd wirken:
Da saßen wir – westeuropäische Millennials, zu jung, um den Fall der Berliner Mauer mitzuerleben – und konfrontierten uns gegenseitig mit Einsichten, die der Rest der Welt, einschließlich unserer osteuropäischen Nachbarn, längst gewonnen hatte.
Für uns am Tisch war das Gefühl eines Verrats durch unseren engen Verbündeten eine beunruhigende Erst-Erfahrung.
In gewisser Weise hatten wir uns aber schon zu Hause auf diesen Ernst vorbereitet.
Der Anlass war die Veröffentlichung einer Anthologie über europäische Identität und Erinnerung.
„Das Europäische Archiv der Stimmen“ heißt das Buch – mit Texten, die auf den Erfahrungen von 50 älteren Europäern aus den Jahren 1939 bis 1989 beruhen. Die Zeit des Zweiten Weltkriegs, der sowjetischen Bedrohung, einer Epoche, in der man seinen Alliierten nicht ganz trauen konnte.
An jenem Abend in Rom dachte ich, dass der Ernst der Gegenwart gerade dabei war, die Vergangenheit einzuholen.
Und diese Erkenntnis reicht aus, um in Apathie zu verfallen.
Auch für mich hätte es fast böse geendet, als ich mich schließlich von der Trattoria durch die Straßen Trasteveres nach Hause verirrte – einst ein charmantes Viertel, heute überladen mit Airbnb-Wohnungen und rund um die Uhr geöffneten, asiatisch geführten Minimärkten.
Vielleicht war es der Wein, vielleicht das ständige Rattern der Rollkoffer und das Geschrei der Straßenverkäufer – oder einfach nur mein aufgewühlter Geist, der mir sagte: Trasteveres Schicksal ist ein Symbol für das, was dem Rest des Kontinents bevorsteht:
Eine tivoliartige Inszenierung Europas – von uns selbst geschaffen.
Eine schlechte, müde Parodie auf eine einstige Großmacht, die heute von der Gnade anderer lebt.
Sind die Europäer in Wirklichkeit schon so lange apathisch und machtlos, dass der Kontinent droht, zum schönsten Freilichtmuseum der Welt zu verkommen – wie es der niederländische Schriftsteller Ilja Leonard Pfeijffer in seinem Roman Grand Hotel Europa (2018) schreibt?
Ein Kontinent von gestern, der hervorragend geeignet ist, „die wirtschaftliche Entwicklung Chinas zu erleichtern und unseren eigenen Verfall zu verwalten“.
Und man ist geneigt hinzuzufügen:
Ein Ort, an dem fremde Mächte ihre Fahnen pflanzen können, ohne auf Widerstand zu stoßen?
Der Verfall erscheint plötzlich bedrohlich realistisch.
Wenn wir nicht endlich begreifen, dass der alte Kontinent nicht nur unseren Vorfahren etwas abverlangte – sondern auch uns.
Wenn wir nicht sofortige Apathie gegen eine erzwungene Selbstreflexion eintauschen.
Lange, selbstkritische Abende sind kein schlechter Beginn für eine geistige Aufrüstung.
Eine kulturelle, zivile Ergänzung zum politischen Konzept der „strategischen Autonomie“, eines der aktuellen Modewörter in Brüssel.
Fragen wie „Was ist Europa?“ klangen lange wie ein Planspiel in einer Jugendorganisation – aber klingt sie heute nicht nach existenzieller Notwendigkeit?
Diese Fragen lassen mich nicht los, seit ich meinen Beitrag zu der erwähnten Anthologie schrieb: ein Kapitel aus meinem Buch De vingeskudte. Nye europæiske erkendelser („Die Verwundeten. Neue europäische Einsichten“).
Im Winter 2022–2023 kaufte ich ein unbegrenztes Interrail-Ticket und reiste 15.000 Kilometer durch Europa, um die kulturellen und politischen Folgen des Ukrainekriegs zu untersuchen – so, wie sie sich uns darstellen, die wir in der reichsten und friedlichsten Ära der europäischen Geschichte geboren wurden.
Wir, die mit dem Krieg in der Ukraine zum ersten Mal erleben, dass auch unser Europa bedroht ist.
Meine Altersgenossen in Ländern wie Rumänien, der Slowakei, Ungarn, Polen und Bosnien-Herzegowina teilten nicht automatisch die Annahme, dass wir uns als „Opfer“ bezeichnen durften.
Sie waren keine Opfer der Erzählung. Sie waren Mitverantwortliche.
Viele lachten, als ich mit meiner frisch erschütterten Unschuld und meinem Notizblock ankam.
Sie hätten seit 30 Jahren auf die Aufmerksamkeit Westeuropas gewartet, sagten sie – und jetzt, wo sich Westeuropa selbst bedrängt fühlt, soll sie plötzlich kommen?
Typisch westliche Arroganz, sagten sie – importiert aus den USA, wie so vieles andere auch.
Bemerkenswert war, dass die Kritik aus dem Osten sich im Westen spiegelte:
Im verschneiten Stockholm traf ich Amanda Broberg, Autorin und liberale Publizistin, damals 23 Jahre alt.
Sie meinte, das Jahr 2022 habe mit der „disneyfizierten“ Erzählung vom Europa nach dem Mauerfall gebrochen – einer Erzählung, mit der ihre Generation aufgewachsen sei.
Eine Erzählung, in der „keiner der Bösen aus dem Westen kam“ – und in der die Schurken in der Ferne von westlichen Mächten, allen voran den USA, in Schach gehalten wurden, sagte sie.
In der der Sieg des Liberalismus in bequeme apolitische Politik verwandelt wurde.
In der die größten Konflikte Europas – etwa der Jugoslawienkrieg – vernachlässigt wurden. In diesem Punkt gab sie den Osteuropäern recht.
Mit dem Unterschied, dass Broberg die Kritik nach innen richtete.
Sie war kein Opfer der Erzählung. Sie war Mitverantwortliche.
Und für Broberg war die Zeit vorbei, in der Europa sich selbst überlassen blieb.
Ihre Antwort war symptomatisch für viele der europäischen Stimmen in De vingeskudte – Stimmen, die mich davon überzeugt haben, dass 2022 als das Jahr in Erinnerung bleiben wird, in dem der Geist einer neuen Generation Europäer geformt wurde.
Zunächst durch den Krieg auf europäischem Boden. Und, so denke ich heute, durch den amerikanischen Verrat.
Vielleicht sollte unsere nächste selbstkritische Frage lauten:
Was ist Europa – ohne die USA?
Wenn die europäische Identität tatsächlich mehr ist als nur ein Satz auf einer Kaffeetasse, der an irgendeiner Straßenecke in Trastevere verkauft wird.
Dieser Artikel wurde für schwedische Zeitung „Expressen“ verfasst: https://www.expressen.se/kultur/ide/tack-usa-och-jd-vance-nu-fods-europa-pa-nytt/
Wir danken Anne Schumacher für die Übersetzung.