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Im Sumpf der Erzählungen

Die aktuelle Pandemie-Lage in der sachsen-anhaltinischen Kleinstadt ist schnell zusammengefasst: Hier gibt es kein Corona, da ist man sich einig.

Die aktuelle Pandemie-Lage in der sachsen-anhaltinischen Kleinstadt ist schnell zusammengefasst: Hier gibt es kein Corona, da ist man sich einig.

Small-Talk machte schon in der rheinland-pfälzischen Kleinstadt, in der ich für die ersten zwei Monate der Krise exilierte, keinen Spaß: Die Fallzahlen, der Drosten, die armen Italiener, und erst dieser Trump. In den besseren Momenten des Gesprächs bestätigte man sich das Glück der persönlichen Unversehrtheit, schließlich seien ja nicht alle Lebensgemeinschaften ein solcher Hort der Eintracht. Man spricht die Dinge an, bei denen man sich dem Einverständniss des Gegenübers sicher sein kann, so funktioniert der Plausch. 

Jeden Abend dann Tagesschau und belegte Brote.  

In meiner Heimatstadt in Sachsen-Anhalt hingegen traf man bestenfalls auf Skepsis: „Kennst du etwa jemanden, der es wirklich hatte? Also das Krankenhaus ist so leer wie noch nie.“ Alles im Tenor: Wir lassen uns hier nicht an der Nase herumführen. 

Einer der Gründe für diese Skepsis waren die tatsächlich sehr geringen Fallzahlen im Landkreis; hier kannten wirklich wenige Leute jemanden, der erkrankt war. Durch die wenigen Corona-Infektionen vor ihrer Haustür wollten die Bewohner der Kleinstadt die Gefahr und internationale Tragweite der Pandemie nicht ernstnehmen. Die Kommunikation vieler hatte sich längst von zurückhaltender Skepsis und gut begründeter Kritik an den Maßnahmen entfernt.

Geschockt stand ich Menschen gegenüber, die vollkommen ironiefrei das ganze Arsenal an Verschwörungstheorien auf mich einprasseln ließen. Der harmlose Small-Talk der ersten Monate war nun mit einiger Vorstellungskraft angereichert worden. Wie Künstler schienen sie die Realität hinter sich gelassen zu haben, um ihrem Innersten Ausdruck zu verleihen: Alles ein Plan der Regierung. Vor allem der Amerikaner, wegen des Wahlkampfes. Und überhaupt, Amerika: Bill Gates!! Uns geschundenes Volk jetzt noch mit Impfungen traktieren zu wollen. Mal mehr, mal weniger grell, mal in Pastelltönen, mal in neonfarbener Sütterlinschrift verbreiteten sie ihre Kunst, die in ihrer Wirkung gleichbleibend haarsträubend blieb.

Ihre wichtigsten Musen und Idole: Ken Jebsen und Attila Hildmann, natürlich, und Uwe Steimle (vom MDR entlassener und ewig BRD-gekränkter Komiker mit Affinität zu AfD-Sprüchen). Staffelei und Leinwand: WhatsApp-Chats, Telegram-Gruppen und Facebook-Posts, die ihre Schöpfungen zu einem großen, internationalen Gesamtkunstwerk zusammenlaufen lassen.

Statt jeden Abend Tagesschau verhöhnte man die öffentlich-rechtlichen Medien, die ja schon längst nicht mehr die Realität wiedergeben würden. Dazu belegte Brote.

Während der zwei Monate in der Heimat wurde mir schließlich klar, dass sie Recht hatten. Corona stellte für die Bewohner meiner Kleinstadt wohl tatsächlich eine vergleichsweise geringe Bedrohung dar. Viel gefährlicher war dieses schleichende Gift der Desinformation, für das sie offenbar so anfällig waren. Es dichtete ihr Weltbild hermetisch ab; keine noch so guten Argumente konnten dagegen ankommen. Es ließ liebenswerteste Menschen zu dumpfen Querulanten werden. 

Dass diese Anekdoten wohl auf den kleinsten Teil der Kleinstadt zutreffen – geschenkt. Pauschal alle Kritiker der Corona-Maßnahmen in einen Topf mit den Omega-Menschen (so nennt Ken Jebsen seine Anhänger) zu werfen, ist auch nicht mein Ziel. Doch die grundlegende Skepsis gegenüber dem Handeln der Regierung war nicht in Gestalt von konstruktiver Kritik an den Maßnahmen, sondern in Form von Hohn und Verachtung ein fester Bestandteil der alltäglichen Plauderei geworden – man schien sich darauf einigen zu können. Man wähnte sich sicher, das eigene Weltbild nicht vom Gegenüber zertrümmert zu sehen. Während sie sich untereinander wohl wie Bürgerrechtler fühlten, wirkten sie auf mich eher wie bockige Kinder. 

Jeden Montagabend gab es einen „Spaziergang“ durch die Innenstadt. Um die 30 Menschen schlossen sich wöchentlich dem Tross an. Keine Plakate, keine skandierten Parolen. Die Mitteldeutsche Zeitung nannte die Corona-Protestler eine „laute Minderheit“ – in unserer Kleinstadt war es eher die Stille, die sie so besorgniserregend machte. 

Das mit der DDR-Vergangenheit zu erklären, würde wohl nicht weit führen – auch in anderen Teilen Deutschlands grassiert Desinformation. Und auch andere europäische Länder sind nicht davor gefeit. 

Was braucht es, um diesem Stumpfsinn etwas entgegenzusetzen? Ein Narrativ, das uns nicht spaltet, sondern eint? Der Begriff „Narrativ“ ist seit Jahren im Trend. In der BWL wird es in Gestalt des „Storytelling“ genutzt, um Schokolade und Bohrmaschinen zu verkaufen. In der Politik sind es eben diese Erzählungen, die über den gesellschaftlichen Wandel und Fortschritt entscheiden. Etwa das Narrativ der Sozialdemokratie: Der Kampf gegen das Elend der Arbeiter, für deren Befreiung und Wohlstand. Wenn ich in aller Naivität wählen dürfte: Das Narrativ des vereinten, solidarischen Europas wäre mein persönlicher Favorit. Her mit dem starken, jeden demokratiezersetzenden Blödsinn zerschlagenden Narrativ des neuen Europas!

Nur lassen sich Narrative nicht einfach erfinden, so der Linguist Alexander Görlach in der ZEIT: „Sie müssen aus einer Gemeinschaft erwachsen.“ Was, wenn die Quelle für diese „Gewächse“ eben nicht mehr seriöse Medien sind? Was wächst in diesem Biotop der medialen Kommunikation gerade heran? „Durch die technologischen Mittel des digitalen Zeitalters“ ließen sich Narrative „in einer Weise bestimmen […], wie es früher nicht möglich war“, so Görlach. Desinformation bringt das Fundament unserer demokratischen Grundordnung ins Wanken. Arbeit an Europa sollte deshalb auch heißen – Arbeit an einer starken europäischen Erzählung. 

Annemarie Rosenstock, 27.07.2020

Annemarie Rosenstock wurde 1996 geboren, studierte Germanistik und Betriebswirtschaftslehre in Mannheim und lebt derzeit in Berlin, wo demnächst ihr Masterstudium beginnt. 

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