Arbeit an Europa ist eine Vereinigung junger Europäerinnen und Europäer, die sich der Pflege des europäischen Gedankens und der gemeinsamen Erinnerungen verschrieben hat. Wir begreifen Europa nicht geografisch, sondern als eine Idee. Wir begreifen Europa als die Geschichte eines gemeinsamen Bewusstseins und gemeinsamen Lebens. In Vielfalt geeint. Das ist die Devise zunehmender Verständigung zwischen den Ländern dieses Kontinents, seinen Sprachen und Kulturen, der Bürger Europas.
Seit mehreren Jahren treffen wir uns in europäischen Ländern, abseits der Hauptstädte, diskutieren mit Leuten vor Ort über Vorstellungen und Werte von europäischer Dimension. Wir befragen die Geschichte der Ideen, um ein Bewusstsein für das zu gewinnen, was uns in der Gegenwart verbindet. Und um den Blick für eine gemeinsame Zukunft zu öffnen.
So entstand ein lebendiges und weitreichendes Netzwerk junger Europäerinnen und Europäer aus 41 Ländern. Aus dieser Zusammenarbeit ist im Jahr 2021 das Europäische Archiv der Stimmen hervorgegangen. Das Archiv umfasst Gespräche mit den Angehörigen derjenigen Generation, die das Europa, in dem wir heute leben, maßgeblich geprägt hat. Einer Generation, der die Schrecken des zweiten Weltkrieges noch in den Knochen saßen. Einer Generation, deren Leben nicht zuletzt auch durch den Kalten Krieg und die Teilung des Kontinents bestimmt war. In über 50 erzählten Lebensläufen wird ein gemeinsamer, ein europäischer Gedächtnisraum hörbar, in 35 Sprachen. Ein Gedächtnisraum, der Erfahrungen vergangenen Leids ebenso enthält wie Hoffnungen auf eine friedliche europäische Zukunft.
Auch in der Ukraine wurde eines dieser Interviews geführt, mit dem emeritierten Professor für Chemie Oleh Panchuk, der sich durch sein vielfältiges politisches und kulturelles Engagement ausgezeichnet hatte. Oleh Panchuk verstarb am 28. Februar 2022, vier Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine.
Wir sind erschüttert. Der von Wladimir Putin befohlene Angriff gilt der Ukraine. Doch er betrifft in einem weiteren Sinn uns alle, als Bürger Europas. Denn er stellt die Friedensordnung infrage, die sich die Staaten dieses Kontinents in einem langwierigen Prozess selbst gegeben haben. Er widerspricht den Prinzipien des Völkerrechts. Er bestreitet die Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Wladimir Putin setzt an die Stelle einer gemeinsam zu erinnernden, perspektivisch notwendig gebrochenen Geschichte Europas eine krude Erzählung, die noch im eigenen Land kaum einer glauben dürfte – wenngleich wir erfahren müssen, dass doch zu viele ihr Kredit geben. Schon die Auflösung von „Memorial“ war ein Symptom dieser tiefergehenden Geschichtsvergessenheit. Dabei sind aufrichtige Erinnerung und historische Bildung die einzig wirksamen Mittel gegen geschichtspolitisch verklärte Großmachtsträume und Gewaltmonopole. Eine aufrichtige Erinnerungskultur steht im Zeichen der Verantwortung, Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen. In diesem Sinne halten wir es auch mit Stephan Wackwitz: „Man muss Puschkin gegen Putin in Stellung bringen, nicht Puschkin canceln, weil Putin Krieg macht.“
Arbeit an Europa fühlt sich der Diskussion und Aufrechterhaltung der kulturellen Idee Europas und seiner universellen Grundwerte verpflichtet. Gemeinsame politische Forderungen zu stellen, war dabei nie unsere Absicht. Gerade auch das Archiv der Stimmen versammelt sehr unterschiedliche politische Ansichten, insbesondere auch zur Europäischen Union. Doch jetzt, wo Frieden und Freiheit in Gefahr sind, ist politische Zurückhaltung keine Option.
Die Einschränkung der Rede- und Pressefreiheit sowie die Erfahrung von Krieg und Flucht ist Gegenstand vieler Interviews des Archivs – für einmal nicht politisch-analytisch, sondern persönlich erzählt. Das gibt uns die Möglichkeit, diesen Menschen nachzufühlen und die Konsequenzen davon für die betroffenen Personen zu verstehen. Unsere Kuratorin Aleida Assmann hat darauf hingewiesen, dass die Friedenssicherung, die Herstellung von Rechtsstaatlichkeit, der Umbau von Diktaturen in Demokratien und der Aufbau einer Erinnerungskultur sowie die verbindliche Selbstverpflichtung von Staaten zur Einhaltung der Menschenrechte „Lehren“ seien, welche die Europäerinnen und Europäer „aus ihrer Geschichte gezogen haben“. Assmann spricht von einem „Europäischen Traum“, der aus der kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit hervorgegangen ist und in erster Linie die Solidarität der Nationen in der Bewältigung von Krisen bedeutet.
Wir erleben diese Zeit mit Schrecken und sind mit unseren Gedanken bei den Menschen in der Ukraine. Und wir denken auch an jene Menschen in Russland, die diesen Krieg niemals gewollt haben. Deshalb appellieren wir an die politischen Entscheidungsträger Europas, Mitverantwortung zu tragen für den zukünftigen Frieden, für die Wahrung der Menschenrechte und Demokratie, für individuelle Freiheit und staatliche Unabhängigkeit. Es geht darum, die ganze Last der Vergangenheit im Gedächtnis zu behalten und die gemeinsame Zukunft eines in Vielheit geeinten Europas nicht aus dem Blick zu verlieren.