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Essay

Europäische Nachtfahrt

Zug oder Flugzeug, diese Frage stellt sich ja immer wieder. Fliegen ist schneller, flexibler und irgendwie wichtiger. Das Gefühl, jemand zu sein, etwas zu bedeuten, bekommt man in der Lufthansa-Kabine leichter als im DB-Bordbistro. Hier werden einem Tageszeitung und frischer Orangensaft von wunderschönen Stewards gereicht, bleibt der Nebensitz frei und ist die Toilette nie verstopft. Dann der erste Schritt aufs Rollfeld, in der Abendsonne, begrüßt von einem lauen Sommerwind, das Gepäck wartet schon geduldig auf dem Band und am Ausgang steht der Geliebte mit einer Lilie in der Hand. So stellt man sich das vor. In Wahrheit ist alles ganz anders: Es beginnt bei der nervtötenden Frage, wie lange vor dem Abflug man am Flughafen sein muss, um durch die unvorhersehbar volle Sicherheitskontrolle zu kommen.

Dann ist der Koffer immer genau drei Kilo zu schwer, man steht beim Check-In viel zu früh in der Schlange und einen freien Nebenplatz gibt es auch nicht. Fliegen ist keine entspannte Form des Reisens mehr. Früher durfte man Flüge kurzfristig tauschen, einen Wasserkanister mit an Bord nehmen und hoch über den Wolken eine Packung Marlboro rauchen, aber das ist vorbei. Heute fordert das Fliegen die volle Konzentration. „Lehnen Sie sich zurück und entspannen Sie“, sagt der Kapitän, aber dann steht man doch erst noch eine halbe Stunde auf dem Rollfeld und später kostet das Sandwich zehn Euro.

Was ist die Alternative? „Bleiben und Stille bewahren“ wie Gottfried Benn gedichtet hat, „Ach, vergeblich das Fahren/ Spät erst erfahren Sie sich/ bleiben und stille bewahren/ das sich umgrenzende Ich.“ Und sonst, wenn man nun einmal „fahren“ muss, zum Beispiel von Rom nach München und die Flüge am Abend alle schon sehr teuer sind? Ans Autofahren denken heute immer weniger, denn die Anstrengung, die das bedeutet steht in keinem Verhältnis zum Freiheitsgefühl, das sich vielleicht bei 200 km/h mit Janis Joplin im Ohr einstellt. Nein, es gibt eine viel bessere, aufregendere Möglichkeit: Mit dem Nachtzug fahren.

Die Österreichische Bundesbahn (ÖBB) bietet Nachtreisen mit dem Zug in viele verschiedene europäische Metropolen an. Die Fahrt von Rom nach München ist dabei eine der meistgebuchten und schönsten. Abends um 19 Uhr steigt man am römischen Hauptbahnhof Termini direkt von der U-Bahn in sein Abteil, mit Gepäck, das so schwer und gefährlich wie nötig sein darf. Zur Begrüßung bekommt man vom Schaffner ein gekühltes Fläschen Prosecco serviert und ein Paar weiße Hausschuhe geschenkt, außerdem liegen Erfrischungstücher und eine Frühstückskarte bereit, von der man sich für den nächsten Morgen einen grünem Tee, Bircher-Müsli und Waldhonig bestellen kann. Auch ein glutenfreies Frühstück ist möglich, allerdings muss man das einen Tag vor Abreise anmelden. Und dann fährt man durch Italien, vorbei an Bologna und Verona, trinkt eine Flasche Rotwein, spielt eine Partie Uno, liest die Zeitung von morgen und schon ist man in den Alpen.

Der Halbmond scheint ins kleine Fenster, das man am besten die ganze Nacht offen lässt, um das Rattern der Gleise zu hören, ein Geräusch das beruhigt wie die Brandung am Meer. Ein eigenes Bad mit Waschbecken, Dusche und Toilette gibt es nur im „Deluxe“-Abteil, aber als Normalpassagier nimmt man gern mit der kleinen Waschgelegenheit vorlieb. Einen Spiegel gibt es hier sogar, der extra zu beleuchten ist und eine Steckdose für den Rasierapparat. Man kann sich gut vorstellen, wie sich ein Geschäftsmann hier morgens pfeifend die Krawatte bindet, während draußen über den Salzburger Bergen langsam die Sonne aufgeht. Aber jetzt geht sie erst einmal unter und der Schaffner kommt, um einem das Bett zu machen. Draußen rauschen die eiskalten Bergseen vorbei, drinnen kann man die Leselampe anschalten. Schön muss das aussehen, von außen, diese vielen kleinen Abteile mit ihren Lichtern. Natürlich schläft man nicht fest auf so einer bewegt-bewegenden Reise, aber man schläft sicher und abenteuerfroh. Hin und wieder hört man den Nachbarn schnarchen, dann hält der Zug plötzlich, um sich auszuruhen. Und schon ist man vor München, mit einer Tasse grünen Tee in der Hand und fragt sich, warum man je noch anders reisen sollte als so. Der Reisekontinent Europa lässt sich in jedem Fall kaum besser „erfahren“ als in der Wagenkabine eines Nightliners.

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