Wenn man sich die Frage nach den gemeinsamen und verbindenden Werten der Europäischen Union als Gemeinschaft stellt, dann erkennt man sehr schnell, dass diese Frage zutiefst komplex ist. Zunächst sind politische Werte wie die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, das Recht auf freie Meinungsäußerung und Freizügigkeit, der Wunsch nach Frieden und Sicherheit tragende Säulen des europäischen Selbstverständnisses. Ebenso besitzen philosophische Werte wie die Wahrung der Menschenwürde, die Gleichheit vor dem Gesetz, die hohe Wertschätzung des Individuums und der sich daraus ergebende Personenbegriff, die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Minderheitenrechte und die hohe Form der Freiheit, die in guter aufklärerischer Tradition nie frei von Verantwortung gedacht werden sollte, eine integrative Kraft. Eine ganz besondere Bedeutung haben in diesem Zusammenhang gerade auch das Christentum und der Humanismus. Europas Welt- und Wertevorstellungen wurzeln in diesen lang zurückreichenden geistigen Traditionen, die zugleich Anstoß und Basis für weitere Veränderungen sowie Entwicklungen geben können.
Außerdem bilden in der Europäischen Union die offenen Märkte sowie die Mobilität eine fundamentale ökonomische Grundlage. Seit einigen Jahren kann man immer mehr den Eindruck gewinnen, dass es gerade der Wirtschaftsmarkt mit seinen ökonomischen Werten ist, der die Europäische Union sowie die einzelnen Nationen ausmacht und zusammenhält – oder eben im Fall des Vereinigten Königreiches, diesen Zusammenhalt leider nicht mehr leisten konnte.
Doch können diese, sich an den globalen Märkten orientierenden, ökonomischen Werte tragende, integrative und innovative Kräfte entfalten, die die Europäische Union in all ihrer wunderbaren Diversität an Staaten, Sprachen, Kulturen, Traditionen, Arten und Weisen zu leben, einer jeweils ganz eigenen Geschichte – gerade auch mit Blick auf die Verstrickungen in den Zweiten Weltkrieg – in Krisenzeiten verbinden und tragen?
Ich wage dies zu bezweifeln, weil ökonomische Werte häufig in erster Linie nur eine kurzfristige Orientierung geben und sich an Eigeninteressen orientieren. Werte wie Verantwortung, Solidarität und Empathie sind dringend nötig in einer Gemeinschaft, um den Blick auch auf weniger begünstigte Regionen und Gruppen zu richten, was den gewinnorientierten Effizienz- und Konkurrenzregeln des Marktes eher zuwiderläuft.
Ich denke, dass die bereits genannten politischen, philosophischen, geistesgeschichtlichen und ökonomischen Werte gemeinsam die tragenden sowie verbindenden Werte der Europäischen Union sind. Es kann daher nicht darum gehen, die verschiedenen Werteebenen gegeneinander auszuspielen. Jedoch sollte ein Gleichgewicht zwischen ihnen bestehen. Aktuell scheint es an der Zeit, diese einenden Kräfte wieder stärker auch außerhalb der ökonomischen Zusammenhänge zu suchen.
Die entscheidenden Fragen könnten daher lauten: Wie kann die Europäische Idee im Geiste einer Werte- und Kulturunion Einzug in die Köpfe, Seelen und Herzen der Menschen in den vielfältigen und oft so unterschiedlichen Nationen halten? Wie kann es gelingen, dass wir uns als Europäer*innen fühlen und gegen den sich ausbreitenden Nationalismus europäische Identitäten sowie eine auf stabilen Werten begründete europäische Gemeinschaft bilden?
Mit Sicherheit ist der folgende Gedanke nur eine mögliche Idee, die aufgeworfenen Fragen und Probleme anzugehen, aber meiner Überzeugung nach können Literatur und Künste als mögliche Imaginations-, Empathie- und Toleranzschulen ein Gegenmittel zum wieder aufkeimenden Nationalismus in Europa sein und diese Werte in uns Menschen bilden sowie stärken. Wir brauchen eben diese Werte als Europäer und eigentlich als Weltbürger, um die zukünftigen Krisen gemeinsam und nicht gegeneinander zu lösen. Denn in einer global vernetzten Welt benötigen wir zukünftig auch global vernetzte Antworten sowie Lösungen – zumindest bei Themen, die die ganze Welt betreffen, wie beispielsweise der Klimakrise.
Wir sollten uns also die Frage nach der elementaren Bedeutung von Literatur und allen Künsten für eine Europäische Gemeinschaft im Sinne einer identitätsstiftenden Kultur- und Werteunion stellen.
Diese Grundidee baut neben weiteren Säulen stark auf den phänomenologischen und anthropologischen Erkenntnissen von Wilhelm Schapp auf, die dieser unter anderem in seinem 1953 in erster Auflage erschienenen Werk „In Geschichten verstrickt – Zum Sein von Mensch und Ding“ herausgearbeitet hat. Laut diesen Erkenntnissen machen uns die Geschichten, in die wir verstrickt sind, zu dem, was und wer wir jeweils sind. Im deutschen Sprachraum hat der Phänomenologe Wilhelm Schapp als erster diese elementare Bedeutung von Geschichten für das menschliche Sein genauer untersucht, indem er sich die Frage stellt, „ob wir dem, was Menschsein eigentlich ist, mit dem Verstricktsein in Geschichten gerecht werden, oder ob man mit anderen Mitteln oder von einer anderen Seite her dem, was Menschsein eigentlich ist, noch näher oder ebenso nahe kommen kann“.[1] Wilhelm Schapp entwickelt die anthropologische Grundannahme, dass wir Menschen immer in Geschichten verstrickt sind und zu jeder Geschichte mindestens ein darin Verstrickter gehört. Beides gehört laut ihm untrennbar zusammen. „In-der-Welt-Sein“ und Menschsein bedeutet folglich „In-Geschichten-verstrickt-zu-sein“, noch genauer gesagt „In-Geschichten-verstricktes Sein“. Alles, was uns begegnet, begegnet uns als Geschichte bzw. in Geschichten, die einen Sinnzusammenhang stiften. Die Geschichten sind dasjenige, was die Welt ausmacht, denn die Welt, wie wir Menschen sie erleben, besteht wesentlich aus Geschichten. Der Mensch ist von seinem ersten Atemzug an der „In-Geschichten-verstrickte Mensch“, das „In-Geschichten-vertrickte Sein“, da er bereits in bestehende gegenwärtige und vergangene Geschichten hineingeboren wird, die Zukunftsrelevanz haben.
Literatur und alle Künste erzählen mit ihren je eigenen Ausdrucksmitteln Geschichten und können daher zu einem tieferen Verständnis des eigenen und fremden Seins beitragen, da im Sinne der Rezeptionsästhetik ein Austausch, eine Art Dialog zwischen der Literatur bzw. dem Kunstwerk und dem Rezipienten entsteht. Schriftstellern und Künstlern kann es gelingen, unbekannte Welten des Sehens, Denkens und Empfindens zu eröffnen. Hierdurch erschließen sich neue Wahrnehmungs- und Erkenntnisräume, um die Welt zu erkunden, zu erfahren und mit allen Sinnen zu entdecken sowie Unterschiede, Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten zwischen dem bisher Fremden und Bekannten festzustellen. Sie fordern und fördern daher die Imagination der Rezipienten in einem hohen Maße, wodurch der jeweilige Blick auf die Welt und das eigene Leben bereichert, erweitert sowie vertieft wird. Es eröffnen sich neue Horizonte und Perspektiven des eigenen Wahrnehmens, Denkens und Empfindens. Sie sind folglich eine Art Imaginations- sowie Empathieschule und können deren Entwicklung und Verfeinerung ermöglichen, da sie Wahrnehmungs-, Erfahrungs-, Begegnungs- und Diskursräume über nationale, räumliche und zeitliche Grenzen hinaus eröffnen.
Imagination ist die Voraussetzung für Empathie. Beides zusammen kann zu einem tieferen Verständnis sowie Erkennen des Anderen, bisher Fremden führen, woraus sich Toleranz sowie noch einen Schritt weiter Solidarität entwickeln kann. Denn Solidarität mit dem ganz Anderen und Fremden kann es ohne Empathie, wenn überhaupt, nur an der formalen Oberfläche geben. Echte, tiefe Verbundenheit und Solidarität setzt innere Freundschaft, Partnerschaft, eine Lust an Gemeinschaft, ein Wir-Gefühl auf der Basis von Empathie voraus.
Demokratie braucht zum Diskurs, zur Imagination, zu Empathie und Toleranz fähige Bürger*innen, die auch die jeweils anderen Seiten verstehen wollen und können, denn die politischen sowie sozialen Probleme sind komplex und multiperspektivisch. Daher ist ein globaler, multiperspektivischer Blick auf die Welt absolut notwendig, um konstruktiv an den Diskursen teilnehmen zu können. Ebenso braucht die Europäische Union Bürger*innen, die nicht ausschließlich national, sondern europäisch, sogar global denken. Die die anderen Mitgliedstaaten in all ihrer jeweiligen Diversität schätzen und offen mit Multiperspektivität umgehen. Literatur und Künste aus den unterschiedlichen und vielseitigen Ländern der Europäischen Union, ihre Geschichten und Themen mit ihren Erfahrungs-, Bild-, Farb-, Bewegungs-, Denk-, Geschmacks-, Klang- sowie Gefühlshorizonte, eröffnen uns deren reiche Welten und lassen uns diese Länder tiefer erkennen und daher vielleicht freundschaftlicher verstehen. Deshalb ist gerade der Austausch und die Förderung der Literatur und Künste neben konkreten Begegnungsreisen besonders wichtig, um die Europäische Union als eine verbundene Werte- und Kulturgemeinschaft zu fördern.
Hieraus erwächst unter anderem die Idee, dass ein Schulfach „Europäische Union“ in den Mitgliedstaaten eingeführt werden müsste, in dem neben tatsächlichen Schüleraustauschen und Tandemprojekten unter anderem Literatur und Künste, aber auch kulturelle und kulinarische Eigenarten aus den jeweils anderen europäischen Ländern zum Unterrichtsgegenstand werden könnten. So würden deren vielfältigen Themen, Gedanken, Ängste und Sorgen, aber auch deren jeweiliger Geschmacks-, Farben- und Kulturreichtum sowie die jeweilige besondere Lebensfreude, die Welterfahrung der jungen Menschen multiperspektivisch bereichern und Lust auf Europa machen. Dies stellt den Versuch dar, einem inspirierenden europäischen Gemeinschaftsgeist und -sinn, einer möglichen europäischen Identität in den Schulen Räume zu eröffnen. Denn die Geschichten der Menschen in den einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind Europas Geschichten und damit letztendlich auch die Wurzeln einer möglichen europäischen Identität. Es liegt an uns, welche Geschichten wir den jungen Menschen von Europa erzählen möchten und es gibt so viele, die darauf warten, erzählt zu werden.
Christiane Woeller, Jahrgang 1979, Studium in Mainz, Rom, Frankfurt und Marburg, lebt derzeit in Essen, bildet als Fachleiterin zukünftige Lehrer*innen in den Fächern Philosophie sowie Deutsch aus und unterrichtet aktuell als Lehrerin in den Fächern Philosophie, Deutsch und Evangelische Religion an einem Gymnasium in Duisburg-Marxloh.
[1]Wilhelm Schapp: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding. 4. Auflage 2004. Klostermann Seminar, Band 10, S. 146.